Sonntag, 1. Dezember 2013

Denkwürdigkeiten in der Kampfkunstwelt



Liebe Leserinnen und Leser,

mit dem heutigen ersten Advent beginnt wieder eine Zeit des Innehaltens und der Besinnung.
Nach den vergangenen mitunter recht turbulenten Monaten möchte auch ich daher die Gelegenheit nutzen, in diesem neuen Beitrag die letzen Wochen und Monate Revue passieren und die werte Leserschaft daran teilhaben zu lassen.

Neben erfreulichen Erlebnissen im Rahmen von Fortbildungsseminaren und während einiger Begegnungen mit gleichgesinnten Kampfkünstlern mischten sich auch Erfahrungen darunter, die mich nachdenklich und betrübt stimmten. So musste ich beispielsweise bemerken, dass in der großen Kampfkunstszene nach wie vor Neid, Missgunst und Konkurrenzdenken die Herzen einiger Vertreter dieser Zunft mit der Bitterkeit der Galle verdüstern. Folglich habe ich zur Illustration des heutigen Beitrages auch zwei miteinander kämpfende Samurai (nach Hokusai) gewählt.
Anstatt die Losung „Miteinander statt Gegeneinander“ zu beherzigen, trachten einige Vertreter der Kampfkunst, die sich selbst „Meister“ oder „Sifu“ schimpfen, danach, ihren Kampfkunstbrüdern das Leben schwer zu machen oder gar deren Existenzen zu vernichten.
Da entbrennt beispielsweise ein Streit über eventuelle Urheberrechte an einem Text, der sich mit einem Thema befasste, zu dem offensichtlich mindestens zwei verschiedene Autoren ihre Auffassungen schriftlich und in öffentlicher Form dargelegt hatten. Doch anstatt diesen Disput auf würdiger Ebene zu regeln, wie es gestandenen Kampfkünstlern, die obendrein noch höhere Weihen empfangen haben, eigentlich geziemen würde, wird da von einer Seite sogleich mit der meist unsauberen und unschönen Bearbeitung durch einen Advokaten gedroht. Wenn alle Meinungsverschiedenheiten nach alter Väter Sitte offen und ehrlich zwischen Ehrenleuten ausgetragen werden würden, wie viele Juristen würden arbeitslos werden!
Wie dem auch sei – gegenüber einem solchen Wüterich erscheint es immer noch ratsam, das alte Sprichwort „Der Klügere gibt nach“ zu befolgen, zumal wenn es sich um ein Streitobjekt von so geringem Interesse handelt. Und so habe auch ich mich in dieser Sache an die Wing Chun – Grundregel vom Nachgeben gegenüber stark vorwärtspreschenden Kräften gehalten und habe in meinem ganzen Wesen einen Bong Sao gebildet...

Welche Motivation nun auch immer dahinter gesteckt haben mag, dass dieser „Sifu“ den Streit so herrisch und völlig konträr zu der von ihm vertretenen Kampfkunst Wing Chun mit mir gesucht hatte; ob es nun Frust ob seiner vielleicht nicht gut laufenden Schule gewesen ist oder ob er den (Selbst-)Hass als Folge des Endes einer Liebesbeziehung nach außen transferieren musste – wer zur Kompensation eigener Probleme danach trachtet, anderen Menschen das Leben zu vergällen, darf in meinen Augen nicht als respektabler Kampfkunst-Lehrer angesehen werden, da derartige Charakterfehler solche Leute zum Unterricht an Schülern in einer Kampfkunst, der immer deutlich höhere Ansprüche an den Lehrer stellt als beispielsweise die Tätigkeit lediglich als Trainer, meines Erachtens nach disqualifizieren.

Eine weitere Denkwürdigkeit während der letzten Monate bestand darin, dass mir mittelbar ein „Sifu“ begegnet ist, der für sich in Anspruch nimmt, „traditionelles“ Yip Man Wing Chun zu unterrichten und der dennoch ein Graduierungssystem für geboten erachtet, wo doch jedem, der sich mit den chinesischen Kampfkünsten beschäftigt, bekannt sein dürfte, dass es eben im gesamten Bereich des „Kung Fu“ keine Graduierungssysteme gegeben hat. Der Weg, den beispielsweise Leung Ting mit seinem eigenen Graduierungssystem beschritten hat, stellt eine Abweichung von der althergebrachten Auffassung im "Kung Fu" dar. Nun ist es jedoch so, dass in unserer westlichen Gesellschaft meist nach Qualifikationen und Nachweisen einer Befähigung gefragt wird, die sich eigentlich nur in der Qualität des Unterrichtes und in dem Verhältnis zwischen Schülern und Lehrer widerspiegeln könnte. Doch in den westlichen Kulturen wird dazu ja meist eine andere Auffassung vertreten. Somit sei besagtem Vertreter des Wing Chun seine – sicher auch von marktwirtschaftlichen Erwägungen geleitete – Vorgehensweise verziehen. Nur sollte man dann meiner Meinung nach nicht mehr davon reden, eine chinesische Kampfkunst auf „traditionelle“ Weise vermitteln zu wollen.

Weiterhin erfüllt mich mit großer Sorge ein Trend, der ganz sicher dazu führen wird, dass die Kampfkunst als solche immer weiter verwestlicht und damit einhergehend abgewertet werden wird. Wenn Kampfkunstschulen heutzutage in unserem Lande eine „Marketing-Beratung“ benötigen, um noch weiter existieren zu können, dann liegt hier etwas ganz gewaltig im Argen! Ich möchte hier nur kurz eine Aussage eines solchen „Marketing-Beraters“ präsentieren: „Es kommt zu einer Professionalisierung der Kampfkunstschulen. Nur noch welche mit perfektem Marketing werden überleben. Knallhartes Management und Qualitätscheck ist wichtig.“
Was soll man als Kampfkunst-Lehrer, der seine Schüler mit viel Herzblut zu betreuen bereit ist, von derartigen Aussagen halten? Solche „professionalisierten“ Schulen müssen doch unweigerlich zu Betrieben verkommen, wo die Schüler lediglich noch bloße Nummern als Verwaltungseinheiten darstellen, die jedoch die willkommenen finanziellen Entrichtungen als Gegenleistung zum einer Massentierhaltung gleichenden Unterrichtsbetrieb zu erbringen haben. Wo bleibt da der Mensch, wo das Individuum, wo die familiäre Atmosphäre, die doch gerade in der Kampfkunst so wichtig ist? Wie soll in einem solchen Klima die besondere Schüler–Lehrer–Beziehung gedeihen, welche die traditionellen Kampfkünste immer ausgezeichnet und den Kampfsportarten in ethischer Hinsicht überlegen hat wirken lassen?
Meine persönliche Auffassung über einen würdigen Kampfkunstunterricht schaut jedenfalls anders aus.

Mit diesen ernsten Gedanken verabschiede ich mich von meiner treuen Leserschaft für dieses Jahr und wünsche allen eine friedvolle und besinnliche Adventszeit sowie ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest. Mögen wir uns im nächsten Jahr in hoffentlich alter Frische hier wieder begegnen!

Euer Sifu Kai

Samstag, 20. Juli 2013

Zum 40. Todestag von Bruce Lee




Liebe Leserinnen und Leser,

heute vor 40 Jahren verstarb mit Bruce Lee einer der größten Kampfkünstler der Neuzeit.
Die Kampfkunstszene verdankt diesem Ausnahmeathleten unsagbar viel. Erst durch die von ihm angestoßenen Impulse war es möglich, die Kampfkunstwelt wachzurütteln aus einem gefährlichen Dornröschenschlaf, erst durch seine revolutionären Ideen konnten starre Doktrinen aufgebrochen und die Sphären des Kampfes mit neuem Leben angereichert werden. Diese Leistung wirkt bis heute nach.

Unweigerlich gelangt man aus dem zeitlichen Abstand zu der Frage, ob es ein Segen war, dass Bruce Lee die volle Komplexität des Wing Chun - Systems, was ja seine kampfkünstlerische Basis gebildet hatte, verwehrt geblieben ist. Ich würde aus meiner Perspektive diese Frage mit einem Ja beantworten.
Denn aus der Notlage heraus, das System nur unvollkommen zu beherrschen, erwuchs in Bruce Lee der Antrieb zur Beschäftigung mit diversen anderen Stilen und Systemen. Immer war er dabei von dem Wunsch beseelt, eine Möglichkeit zu finden, sich auf direktestem und schnörkellosestem Wege selbst verteidigen zu können. Das Endprodukt dieser Bestrebungen, sein Jeet Kune Do, braucht sich auch heute noch, 40 Jahre nach dem Tode seines Entwicklers, nicht vor den führenden Stilen und Systemen auf dem breiten Markt der Kampfkünste zu verstecken.
Was das Jeet Kune Do aber über die meisten herkömmlichen Stile emporhebt, ist die Möglichkeit für jeden Einzelnen, das eigene Individuum zum Ausdruck zu bringen. Und genau das hatte Bruce Lee bei der Kreation dieses Konzeptes auch im Sinn. Nicht umsonst beschäftigte er sich neben der Ausrichtung an der harten Realität des Kampfes auch intensiv mit theoretisch-philosophischen Überlegungen.

Auch wenn Bruce Lee sich immer in erster Linie als Kampfkünstler ansah, so verdanken wir ihm doch auch viele vergnügliche und actiongeladene Stunden an Filmmaterial, die aus seiner schauspielerischen Tätigkeit der Nachwelt erhalten geblieben sind. Nicht nur, dass er über seine Filme die chinesische Kampfkunst auch im Westen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht hat, nein, er hat auch für die Filme des Martial-Arts-Genres einen Standard gesetzt, der seither in dieser Ausprägung nicht mehr erreicht worden ist.
Alle seine Filme zeichnen sich durch knallharte Action in Kombination mit einer oftmals anzutreffenden Kompromisslosigkeit aus, wobei die Gewalt jedoch nie als Selbstzweck anzusehen ist. Denn Bruce Lee war immer bestrebt zu zeigen, wie Gewalt entsteht und wie sich eine Gewaltspirale hochschaukeln und mitunter verselbständigen kann. So münden seine Filme auch stets in ein mehr oder weniger dramatisches Ende.

Sein eigenes Ende war nicht weniger dramatisch, zumal die Umstände seines jähen und frühen Todes Anlass zu reichlichen Spekulationen lieferten, von denen jedoch keine letztgültig bewiesen werden konnten.
Ich möchte mich an diesen Spekulationen nicht beteiligen; die diversen Theorien und auch der offizielle Obduktionsbefund lassen sich recht einfach im Internet recherchieren.

Ich möchte abschließend nur in Erinnerung rufen, was Bruce Lee selbst einmal zum Thema Tod und Sterben geäußert hatte:
"If I should die tomorrow, I will have no regrets. I did what I wanted to do. You can't expect more from life."
Dem dürfte nicht viel hinzuzufügen sein.
Und so möchte ich meinen heutigen Beitrag auch mit diesen filmischen Impressionen von den Beerdigungszeremonien, auf denen viele bekannte Gesichter wiedererkannt werden können, abschließen.




So bleibt mir nur noch zu sagen: Ich verneige mein Haupt in tiefster Ehrfurcht und in Respekt vor diesem Ausnahme-Kampfkünstler. Danke für alles und ruhe in Frieden, Bruce Lee!

In diesem Sinne verbleibe ich bis zu meinem nächsten Beitrag in diesem Blog,

Euer Sifu Kai

Sonntag, 14. Juli 2013

Die Wechselwirkung zwischen Qi Gong und Kampfkunst. Teil III.



Liebe Leserinnen und Leser,

heute veröffentliche ich den dritten und letzten Teil meiner Ausarbeitung über die Wechselwirkung zwischen Qi Gong und Kampfkunst. Im Anschluss an den Text findet sich der wissenschaftliche Apparat mit den Anmerkungen und dem Literaturverzeichnis. Ich wünsche wieder viel Freude beim Lesen!

Teil III.
Der positive Einfluss des Qi Gong auf den Kampfkunstübenden

Die Fertigkeiten mancher Meister der Kampfkunst, mit ihren Händen Steinwände zu durchschlagen, acht übereinanderliegende Ziegelsteine zu zerbrechen, riesige Eisblöcke zu zertrümmern oder gar Ziegelsteine auch mit dem Kopf zu zerstören, wie es in Demo-Vorführungen auch in unseren heutigen Tagen noch gezeigt wird, basieren nicht auf anatomischen Auffälligkeiten, denn die Hände dieser Personen unterscheiden sich in nichts von den Händen eines normalen Menschen.
Der Schlüssel zum Erfolg bei derlei unwahrscheinlich anmutenden Fakten liegt in der Kunst der Beherrschung des Qi, was wiederum nur durch das intensive Praktizieren von Qi Gong zu erreichen sein kann.
Die Schlagkraft ist nach Ansicht genauer Kenner der Materie vom gerichteten Strom des Qi abhängig. Der Meister, der den Strom des Qi zu lenken vermag, kann ihn nicht nur als Angriffswaffe verwenden, sondern auch als hervorragendes Mittel zur Verteidigung seines ganzen Körpers oder einiger Körperteile, indem er eine Art von Barriere errichtet und die Schläge des Gegners nicht durchdringen lässt. Ein weiteres Mittel besteht in der Verteilung des durchgedrungenen Schlages auf periphere Körperteile, seine „Dispersion“.
So wird nicht zu Unrecht die Beherrschung einiger extrasensorischer Fertigkeiten, die mit der Zeit vervollkommnet und erweitert werden, als das letzte und unbegrenzte Stadium der Kampfkunst angesehen. Es handelt sich dabei um die Fähigkeit, den Gegner aus der Ferne auch mit geschlossenen Augen zu „spüren“ und sich im Dunkeln zu orientieren. Ebenso zählen das Vermögen zu telepathischer Einwirkung, zur Telekinese und zur Hypnose zu dieser höchsten Stufe der Vervollkommnung.8

Als das wichtigste Ziel aller Techniken muss das Erreichen von Ru-jing angesehen werden. Das bedeutet in etwa so viel wie „in die innere Ruhe eintreten“ und umschreibt einen Zustand vollkommener innerer Stille. Keine Gedanken regen sich, und der Geist ist friedlich und entspannt. In diesem Zustand wird eine erwartungslose innere Haltung ermöglicht, in der die Wahrnehmungen extrem geschärft und klar sind.
Auch durch die richtige Atmung kann die Wirkung von Kampftechniken deutlich erhöht werden. Die Atmung ist nicht getrennt von anderen Abläufen im Körper zu betrachten. Und gerade mit der Bewegung des Qi ist sie besonders eng verbunden.
Bei der Einatmung folgt das Qi einer natürlichen Bewegung nach innen und fließt von den Extremitäten zum Dan Tian. Deshalb verfügt der Mensch bei der Einatmung über weniger Kraft und Konzentration nach außen.
Bei der Ausatmung hingegen dehnt das Qi sich aus und bewegt sich vom Dan Tian zu den Extremitäten. Daher kann der Mensch bei der Ausatmung körperlich mehr Kraft freisetzen, aber auch mehr Energie in die Technik leiten, da mehr Qi in den Extremitäten zur Verfügung steht. Deshalb sollten alle Techniken, die Qi abgeben sollen, von einer Ausatmung begleitet werden.
Doch auch der Einatmung kommt Bedeutung zu, denn ein Kämpfer benötigt sie während der Abwehr oder Kontaktaufnahme, um die Energie des Gegners absorbieren, verstehen und umlenken zu können. Außerdem steigt die körperliche Wahrnehmungsfähigkeit bei der Einatmung, während bei der Ausatmung Konzentration und Kraft leichter nach außen bewegt werden können.
Folglich ist es in allen Kampfkünsten wichtig, dass die Atmung die Technik bestimmt und nicht umgekehrt. Was man heutzutage in den Wettkampfformen beobachten kann, muss als eine Verletzung des Grundlagenprinzips aller Kampfkünste angesehen werden, da der technische Rhythmus viel zu hoch ist und einen harmonischen Ausgleich von Atmung und Geist nicht mehr möglich macht.9

Ebenfalls in den Komplex der Atemtechniken gehört die in den Kampfkünsten als Kampfschrei eingesetzte besondere Form der Atmung mit Laut.
Diesen Kampfschrei nennt man in den chinesischen Kampfkünsten „Fa-sheng“ (einen Schrei schreien). Der Zweck dieses Schreies besteht darin, die Energie und die Konzentration des Kämpfers zu bündeln, so dass sich seine gesammelte geistige und körperliche Energie in einer Technik entladen kann. Die Voraussetzung für solch einen Kampfschrei stellt eine innere Haltung von besonderer geistiger Wachheit und Bereitschaft dar, der bereits weiter oben beschriebene Zustand des Ru-jing. In solch einer Situation entsteht ein Laut dann ganz von selbst. Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass ein Schrei auch wirkungsvoll eingesetzt werden kann, um die eigene Bereitschaft zu steigern oder den Gegner zu verwirren. Doch egal zu welchem Zweck – für die korrekte Atmung und Kraftübertragung ist es unabdingbar wichtig, dass der Schrei nicht aus dem Kehlkopf, sondern aus dem Bauchraum kommt.10

Die bereits angesprochene Fähigkeit von einigen der alten Meister, auch mit verbundenen Augen kämpfen zu können, lässt sich dadurch erklären, dass sie eine besondere Sensibilität in den Fingerspitzen, mit denen das Qi des Gegners gespürt und aufgenommen werden kann, entwickelt hatten. Aus diesem Grunde werden in den traditionellen Kampfkünsten bis heute die Fingerspitzen auf den Gegner gerichtet, wobei man sie meist auf eines der Dan Tian zeigen lässt. Bewegt sich der Gegner oder hat er die Absicht anzugreifen, so „fühlen“ die Fingerspitzen das.
Für den Fortgeschrittenen besonders wichtig ist der Punkt Lao–Gong (Kreislauf-Sexus-Meridian 8), der sich in der Handflächenmitte befindet. Durch ihn wird das Qi in die Finger geleitet und kann so bei Kontertechniken entladen werden. Dabei tritt das umgekehrte Prinzip auf wie bei dem oben erwähnten „Fühlen“ der gegnerischen Kraft. Beim korrekten Schließen der Faust wird er in dem Moment stimuliert, wenn die Faust angespannt wird. Stößt man hingegen mit der offenen Hand, so wird die Energie direkt durch diesen Punkt auf den Gegner abgegeben.
Sticht man wiederum mit den Fingerspitzen, so verteilt sich das Qi aus dem Lao-Gong durch die Finger und verlässt den Körper an den Fingerspitzen. Folglich ist Lao-Gong ein wesentlicher Schlüsselpunkt in den Kampfkünsten.11

Auch unter dem Aspekt der Dehnung kann Qi Gong dem Kampfkunstübenden eine wertvolle Unterstützung bieten. Dabei muss man sich jedoch von der in unserer westlichen Welt vorherrschenden Vorstellung von Dehnungsübungen lösen. Während herkömmliche Dehnung nämlich meist mit dem Gefühl, mehr leisten zu müssen, einhergeht, was jedoch zu Verspannungen führen kann, die eine gute Dehnung ihrerseits wieder verhindern, versteht man in Asien unter Dehnung eine Übung der Entspannung und Konzentration. Folglich werden alle bei der Übung beteiligten Muskeln bewusst entspannt. Mit dem Grad der Entspannung wird auch der Grad der Dehnung zunehmen, da sich ein entspannter Muskel weiter dehnen lässt als ein verspannter. Wird durch kontrollierte Entspannung gedehnt, lassen sich Grenzen immer leichter überwinden.
Daher sollte Dehnung durchaus als wichtiger Übungsaspekt betrachtet werden.
Allerdings muss hier auch angemerkt werde, dass extreme Dehnungsübungen in den alten Kampfkünsten kaum bekannt waren. Die Dehnung bestand aus dem langsamen und kontrollierten Üben der Kampfkunst- und Qi Gong – Techniken.
Das hatte den Vorteil, dass die Lockerung und Dehnung auf die Bedürfnisse der Bewegungen angepasst wurde. Die meisten der alten Kampfkunstsysteme kannten jedoch auch keine Fußtechniken in Kopfhöhe, daher wurde Dehnung auch nur in natürlichen Maßen verlangt. Die modernen Varianten mit stark versportlichten und akrobatischen Techniken erfordern hingegen ein viel höheres Maß an Vorbereitung, müssen sich aber auch die Frage nach ihrer Tauglichkeit im Ernstfall beispielsweise einer Notwehrsituation gefallen lassen.12

Die Qi-Kontrolle  ist ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt, der dem Kampfkunstübenden Nutzen bringen kann. Auf der Grundlage der „inneren Übungen“ (Nai Gong) kann von dem fortgeschrittenen Praktizierenden des Qi Gong das Qi frei und ohne Hindernisse bewusst und willkürlich bewegt werden.
So kann das Qi auch in hoher Geschwindigkeit zu den Extremitäten gelenkt und von Meistern durch ihre Techniken auf den Gegner weitergegeben werden.
Dieses Qi ist dann so stark, dass es eine destruktive Kraft entfalten kann. Mit solchen Techniken beschränkten sich sie Kampfkunstmeister früher nicht mehr darauf, ihren Gegnern Knochenbrüche und rein körperlichen Verletzungen beizubringen, vielmehr beeinflussten sie deren Energiesystem. Sehr häufig zielte man mit solchen Techniken auf bestimmte Akupunkturpunkte, die einen leichten Zugriff auf das gesamte Energiesystem zuließen.
Aus dieser Technik entwickelten sich die „Dian-xue“, die auch als „tödliche Hand“ oder „vergiftete Hand“ bezeichnet wurden. Sie umschrieben die „tödliche Berührung“ der Punkte mit Techniken, durch die Qi übertragen wurde. Die Punkte können so stimuliert werden, dass einige solcher Techniken zum Tode führen, ohne dass eine Verletzung zu erkennen wäre. Manche der alten Meister perfektionierten diese Technik und griffen oft Punkte ihrer Gegner an, deren Wirkung erst Tage oder Wochen nach der eigentlichen Auseinandersetzung tödlich war. Auf diesem Wege konnten sie einer Bestrafung nach dem Gesetz entgehen. Weiterhin gibt es auch Punkte, die zu Ohnmacht, schweren inneren Verletzungen, Schmerzen, Lähmungen, Taubheit oder Stummheit führen.
Bis heute werden diese Systeme überwiegend geheim weitergegeben, existierten ursprünglich jedoch in allen Kampfkünsten.13

Eine wichtige Methode, in das eigene Wesen zu blicken, stellt auch in den Kampfkünsten die Meditation dar. Das hauptsächliche Ziel besteht hierbei vor allem darin, den Menschen von seinem Ego zu befreien, das die Realität des Lebens durch die Wunschvorstellungen des Geistes ersetzt, wobei das Ego in diesem Falle nicht als Individualität zu verstehen ist, sondern als Ausdruck der Triebe und Begierden des Menschen.  Eine wesentliche Übung besteht dabei in dem Loslassen vom Ich. Das Ziel vieler solcher Übungen, das als Ideal angesehen werden muss, ist die Einsicht, dass alles, was existiert, nur Ausdruck einer Vielfalt von verschiedenen Erscheinungsformen eines einzigen ist (Dao). Wenn es kein Ich mehr gibt, dann kann auch die Unterscheidung in Mein und Dein, Ich und Du nur noch als relativ und wertlos erachtet werden.
Das gemeinsame Kennzeichen sämtlicher Meditationsformen besteht darin, dass sie den Geist sammeln, ihn klären und beruhigen. Das Verweilen in einem Zustand der gesammelten Wachheit, das weiter oben schon mehrmals angesprochene Ru-jing, stellt die höchste Form dieser Richtungen dar. Es bedeutet, dass man offen und wach sowohl nach innen lauscht als auch erkennt, was außen vor sich geht. Dabei ist der Geist frei von allen Gedanken, die ihn fesseln oder seinen Blick nach innen trüben könnten. Diese höchste Form der Meditation soll im fortgeschrittenen Zustand zu einer Meditation in Bewegung umgesetzt werden. Das trifft insbesondere auf die Übung der Kampfkunsttechniken, die Formen (chin. Lu) oder die Übungen des Qi Gong zu.
Neben den körperlichen Aspekten wird der gleiche Zustand wie in der bewegungslosen Meditation angestrebt. Diesen Zustand kann der Meister dann auch auf schwerer zu kontrollierende Situationen ausweiten, auf die Kampfübung und die Selbstverteidigung. Das erlaubt ihm, die tatsächlichen Geschehnisse ohne Färbung durch seine Ängste, Gefühle und Vorurteile zu erkennen und zu bewältigen14, getreu dem Gedanken „ Der Sieg gehört immer dem, der sogar vor der Schlacht nicht an sich selbst denkt, sondern in der Leere des großen Ursprungs ruht und aufgeht“.15

Direkt mit dem Feld der Meditation korrespondiert der Einsatz von Mudra.
Dabei handelt es sich um Fingerhaltungen, die ihren Ursprung in den indischen und chinesischen esoterischen Schulen haben. Sie wirken auf Körper und Geist gleichermaßen, da sie die Anfangs- und Endpunkte von Meridianen miteinander verbinden, was wiederum dem Fluss des Qi beeinflusst, stärkt und lenkt.
Die Mudra kanalisieren so die Energie, und viele Stile der Kampfkünste verwenden Mudra zur Selbsterforschung und zur Kontrolle der Gefühle.
So ist die Haltung der „Schwertfinger“ oder „Pfeilfinger“ ein in den Kampfkünsten sehr verbreitetes Mudra. Bis heute wird sie in vielen chinesischen Schwert-Formen mit der freien Hand eingenommen. Dieses Mudra bildet ein energetisches Gleichgewicht zu dem Schwert und konzentriert die Energie in der freien Hand. Sie wird im Schwertkampf auf den Gegner gerichtet, vorzugsweise auf eines seiner Dan Tian, um seine Energie zu stören. Gleichzeitig wirkt das Mudra auf den Übenden, indem es die Verbindung von Körper und Geist fördert und die geistigen Kräfte konzentriert.16

Zuletzt soll noch der positive Einfluss der Selbstmassage (Dao-yin) auf den  Kampfkunstübenden beleuchtet werden.
Hauptsächlich wird Dao-yin in den Kampfkünsten eingesetzt, um den Körper vor der Übung zu erwärmen und vorzubereiten. Zusätzlich sollten jedoch immer noch andere Aufwärm- und Dehnübungen praktiziert werden. Einzelne Übungen können auch während des eigentlichen Trainings zum Zwecke der Lockerung
eingebaut werden. Doch in der Regel wird Dao-yin nach der Übung durchgeführt.
Häufig können sich während des Trainings Verspannungen einstellen, oder aber man übt zuviel, so dass ein Muskelkater unausweichlich bleibt. In solch einem Falle verlässt man das Training mit Blockaden der Leitbahnen und Punkte.
Daher ist es anzuraten, nach der Übung noch Dao-yin durchzuführen. Die Muskeln und Sehnen werden dadurch gelockert und verlieren jede Anspannung, die Haut wird erwärmt und besser durchblutet, und Körper und Geist kommen in einen entspannten Zustand. Auch möglicherweise entstandene Blockaden und Disharmonien der körpereigenen Energie werden leichter aufgehoben.
Für den relativ gesunden und kräftigen Übenden der Kampfkünste stellt Dao-yin eine Möglichkeit dar, den eigenen Körper besser kennen- und verstehen zu lernen und dadurch ein tieferes Gefühl für ihn zu erlangen.
Trotz intensiver körperlicher Übung ist es nicht unbedingt so, dass wir unseren Körper wirklich gut kennen. Das tritt uns immer wieder vor Augen, wenn wir erst spät Erkrankungen bemerken und Unwohlsein nur schwer deuten und erst recht nichts dagegen unternehmen können. Nach dem regelmäßigen Üben von Dao-yin wird sich das ändern, wir wissen dann, wie sich die Muskeln anfühlen und wie man sie lockern und erwärmen kann. Wir kennen den Status unserer Energie (Qi) und lernen, leichte Verletzungen und Schmerzen selbst zu behandeln und ihnen möglichst gar vorzubeugen. Auch in der Bewegung ist dieses Wissen äußerst wertvoll, da wir so besser verstehen, was uns schadet oder unserem Körper wohltut. Generell kann man sagen, dass man lernt, bewusster mit sich selbst umzugehen. Dadurch, dass man den Körper immer besser unter Kontrolle hat, kann man sich daran wagen, die Koordination und Feinmotorik zu verbessern.
Doch vor allen Dingen ermöglicht es dem Übenden, seine eigenen Grenzen früher zu bemerken und vorsichtiger mit ihnen umzugehen.17
Und nur derjenige, der seinen eigenen Körper verstehen und kontrollieren kann, vermag auch den Körper anderer Menschen zu verstehen. Speziell wenn man andere Menschen zu unterrichten gedenkt, ist ein solches Wissen überaus kostbar und sinnvoll. Denn jemand, der ein schlechtes Körpergefühl hat und nicht weiß, was richtig für ihn selbst ist, kann auch bei anderen nicht abschätzen, was sie tun oder lassen sollten. Außerdem verhilft die Kenntnis des eigenen Körpers auch zu dem Verständnis, wie der andere Mensch aufgebaut ist und „funktioniert“, was mit Hinblick auf die Selbstverteidigung ein nicht zu verachtender Gesichtspunkt sein dürfte, da man dadurch in die Lage versetzt wird, Schwachstellen ausfindig zu machen und diese zu attackieren, was wiederum zu einem besseren Kampfkunstverständnis im Allgemeinen führt.

Abschließend kann man also festhalten, dass das Üben von Qi Gong jedem Kampfkunstübenden, der ehrlich bestrebt ist, einerseits seine Techniken verbessern zu wollen, andererseits aber auch die Harmonie von Körper und Geist zu einem seiner Ziele erklärt hat, wärmstens zu empfehlen und anzuraten ist.
Denn ein wirkliches Verstehen des Wesens der Kampfkünste kann es ohne Qi Gong niemals geben. 
    


Anmerkungen

1  Song, Z. J. : T’ai-chi ch’üan. S. 247.

2  Dolin, A.: Kempo. Die Kunst des Kampfes. S. 62.

3  Lind, Gabi: Qigong für alle Kampfkünste. S. 29/30.

4  Ebd.: S. 33.

5  Vgl. Lind, Gabi: Qigong für alle Kampfkünste. S. 37 und
 Kraze, Kai: Everyday Life Combat/Reality Fighting. S. 14.

6  Vgl. Lind, Gabi: Qigong für alle Kampfkünste. S. 38 und
 Song, Z. J.: T’ai-chi ch’üan. S.332/333.

 7   Lind, Gabi: Qigong für alle Kampfkünste. S. 49/50.
     
 8   Dolin, A.: Kempo. Die Kunst des Kampfes. S. 122 ff.

9  Lind, Gabi: Qigong für alle Kampfkünste. S. 70/71.

10  Ebd.: S. 72/73.

11  Vgl. Lind, Gabi: Qigong für alle Kampfkünste. S. 83 und S. 217 sowie
 Kraze, Kai: Everyday Life Combat/Reality Fighting. S. 38 ff.

12  Vgl. Lind, Gabi: Qigong für alle Kampfkünste. S. 130 und
 Kraze, Kai: Everday Life Combat/Reality Fighting. S. 19/20, S. 36 und
 S. 62 – S. 74.

13  Vgl. Dolin. A.: Kempo. Die Kunst des Kampfes. S. 178/179 und
 Lind, Gabi: Qigong für alle Kampfkünste. S. 167.

14  Lind, Gabi: Qigong für alle Kampfkünste. S. 196/197.

15  Lee, Bruce: Bruce Lees Kampfstil 2. S. 8.

16  Vgl. Dolin, A.: Kempo. Die Kund des Kampfes. S. 36 ff. und
 Lind, Gabi: Qigong für alle Kampfkünste. S. 200 ff.

17  Lind, Gabi: Qigong für alle Kampfkünste. S. 222/223.


Literaturverzeichnis

Dolin, A.: Kempo. Die Kunst des Kampfes. Ostasiatische Kampfsportarten.
Komet MA-Service und Verlagsgesellschaft mbH. Frechen.

Kraze, Kai: Everyday Life Combat/Reality Fighting. Eigenverlag. Berlin 2005.

Lee, Bruce: Bruce Lees Kampfstil 2. Selbstverteidigung-Techniken.
Falken-Verlag. Niedernhausen/Ts. 1979.

Lind, Gabi: Qigong für alle Kampfkünste. Sportverlag Berlin. Berlin 1998.

Song, Z. J.: T’ai-chi ch’üan. Übungen für Fortgeschrittene.                                   
R. Piper GmbH & Co. KG. München 1994.


Damit endet die dreiteilige Veröffentlichung meiner Ausarbeitung zum Thema Wechselwirkung zwischen Qi Gong und Kampfkunst. Ich würde mich freuen, wenn ich bei dem einen oder anderen Leser vielleicht Denkanstöße bewirkt haben könnte und verbleibe in diesem Sinne wieder

Euer Sifu Kai






























                                                















Montag, 3. Juni 2013

Die Wechselwirkung zwischen Qi Gong und Kampfkunst. Teil II.



Liebe Mitlesende,

aufgrund meiner geplanten Urlaubsreise veröffentliche ich heute schon (und nicht erst wie gewohnt zur Mitte des Monats) den zweiten Teil meiner Arbeit über die Wechselwirkung zwischen Qi Gong und Kampfkunst.

Teil II.
Kampfsport als Irrweg?
Über das Abweichen vom Verständnis der traditionellen Kampfkünste

Aus der Kampfkunst entwickelte sich der sogenannte Kampfsport, der, wie der Name bereits besagt, den sportlichen Charakter besonders hervorzuheben bestrebt ist. Daraus resultiert auch der Umstand, dass getreu des westlichen Wettkampfdenkens Bewertungskriterien aufgestellt wurden., die keinerlei Beziehung mehr zu den klassischen Kampfkunstinhalten aufweisen.
Waren die esoterischen und spirituellen Praktiken untrennbar mit den Kampfkünsten verbunden, ja wurden gar ganz im Gegenteil zu der modernen Auffassung als weit wichtiger als die heute so wesentlichen formalen Übungen erachtet, so sind diese auf die Vervollkommnung des gesamten Menschen abzielenden und nicht nur moralische und gesellschaftliche Aspekte, sondern auch die philosophische Schule umfassenden Entwicklungen in der modernen Auffassung des Kampfsports praktisch gänzlich in Vergessenheit geraten.
Da die klassischen Techniken schwierig und nur langwierig zu erlernen sind – denn sie bedingen eine echte Wegverbindung zwischen Schüler und Lehrer und beinhalten weit mehr als die Form -, wurden sie von den früheren Meistern nur den fortgeschrittensten und treuesten Schülern gezeigt. Das hatte zur Folge, dass viele der schlecht ausgebildeten Schüler, was leider die Mehrzahl war, den Sinn der Kampfkünste in der formalen Übung erblickten. Daraus entstanden die modernen Auffassungen der Kampfkünste.5

Da in manchen Kampfkünsten Kampftechniken und Qi Gong zu einer neuen Einheit miteinander verwoben wurden, war die Bedeutung der einzelnen Bewegungen nur dem Meister und seinen besten Schülern bekannt. Die anderen Schüler übten rein formal, sie verstanden nur den körperlichen Aspekt der Bewegungen. So kam es, dass mit der Zeit viele der Qi Gong – Techniken als körperliche Kampftechniken interpretiert wurden, weil Uneingeweihte den Qi Gong – Bewegungen in den Formen einen kämpferischen Sinn zu geben begannen. Auf diese Weise werden unzählige Bewegungen in den heutigen Formen missverstanden, so dass dadurch leider wesentliche Inhalte verloren gingen, wodurch bis heute viele Kampfkünste zu einem oberflächlichen Sport verkamen. Die früher unbedingt angestrebte Einheit von Geist, Energie und Technik ist heute der Dominanz des Körperlichen gewichen, was ehedem in den Kampfkünsten noch als roh und unreif galt.
Viele Techniken des modernen Kampfsports beruhen nur noch auf körperlicher Stärke, die den Schwächeren unterdrückt. Wer sich langsamer bewegt, wird dem Schnelleren unterliegen. Das Kraftvolle wird das Schwache schlagen, und die langsame Hand muss der schnellen weichen. Dies alles sind aber nur angeborene Fähigkeiten, mit der Lehre von der Kultivierung und dem richtigen Einsatz des Qi hat dies keinerlei Verbindung und kommt ihr nicht gleich. Man braucht nur den Satz „mit vier Liang 1000 Pfund überwinden“ betrachten und wird deutlich erkennen, dass der Sieg mit Hilfe des richtigen Einsatzes von Qi keinesfalls von körperlicher Stärke abhängig ist. Man möge in diesem Zusammenhang nur an die Berichte über siebzig oder achtzig Jahre alte Meister denken, wie sie sich in zahlreichen historischen Aufzeichnungen finden lassen,  die den gleichzeitigen Angriff mehrerer Gegner abwehren konnten. Dieses Vermögen hängt nicht mehr von der Schnelligkeit der Bewegungen alleine ab.6

Man könnte im Grunde die Behauptung aufstellen, dass die alte Idee von den Kampfkünsten nichts anderes war als eine Form des Qi Gong, die unter anderem auch einige wenige Verfahren zur Selbstverteidigung enthielt. In späteren Zeiten ist dieser Umstand oft missverstanden worden, und man hielt alles außer der reinen Kampftechnik (die deutlich zu erkennen war) für unnützes Beiwerk und ließ es einfach weg. Dem Verfasser dieser Arbeit sind während seiner langjährigen Beschäftigung mit diversen Budo-Stilen selbst öfters derlei ignorante Verhaltensweisen gegenüber einer von ihm persönlich angestrebten Vereinigung von Körper und Geist entgegengebracht worden...
Bis heute scheinen nur wenige Leute begriffen zu haben, dass die Folgen dieser Fehlinterpretation nicht nur die Verrohung einer Kunst, sondern auch Geistlosigkeit, schlechte Gesundheit und oft einfach nur Sinnlosigkeit hervorzurufen taugen.
Denn stellen wir uns die Frage, was denn von den ehemaligen Inhalten der Kampfkünste noch übrig geblieben ist, so fällt die Antwort ernüchternd aus:
Von den oben geschilderten Inhalten der Kampfkünste ist nämlich schlichtweg nichts übrig geblieben. Zwar werden ihre Formen nach wie vor verwendet, um Wettkämpfe zu gewinnen, um Prestige für das Ego zu erlangen, doch deren Sinn wird nicht hinterfragt. Obwohl die modernen Formen leer sind, weil der Geist der Ausübenden leer ist, und die Hoffnung auf Lebenserfüllung durch Kampfkunst sich stetig mehr in einer innere Not verwandelt, bleibt die unerklärbare Faszination bei den meisten Übenden und Aktiven doch erhalten und bewirkt eine nicht definierbare Liebe zu den Kampfkünsten, die vollkommen anders ist als in einem zeitgenössischen Sport. Der Grund dafür mag in der in jedem menschlichen Individuum verwurzelten Sehnsucht nach geistigem Wachstum, die uns über die Tiere erhebt, zu suchen sein, die zwar durch den heutigen schnelllebigen Alltag mit all seiner Reizüberflutung der westlichen Konsumgesellschaft zugedeckt wird, aber dennoch nie völlig überwunden werden kann.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage ob Kampfkunst oder Kampfsport heutzutage intensiver als jemals zuvor betrieben werden. Doch wie viele Menschen sind imstande, den mächtigen Unterschied zwischen der Kunst und dem reinen Sport zu verstehen und im bescheidenen und selbsthinterfragenden „Werden“ das einzulösen, was sie im egoistischen „Sein“ bereits erlangt zu haben vermeinen?

In unserem westlichen Kulturkreis sind die Kampfkünste in der Regel eine Domäne der jungen Menschen, da es dort meist um Wettkämpfe und die Steigerung der körperlichen Leistung geht. Die Bezeichnung „Sport“ ist vor diesem Gesichtspunkt durchaus angebracht. In den alten Systemen jedoch, die man am treffendesten als Kampfkunst bezeichnen sollte, wurde neben den körperlichen Aktionen ein großer geistiger und spiritueller Anteil in der Übung verlangt. Sie wurden als „Kunst“ bezeichnet, da es zwar für den Anfänger nötig war, die äußere Form (also die Techniken und Abläufe etc.) seiner Kunst zu erlernen, der Fortgeschrittene aber durch diese Form seine Individualität und Persönlichkeit auszudrücken bestrebt war.
Erst als die Kampfkünste in den Westen exportiert wurden, ging dieser Aspekt verloren, und der rein körperliche Anteil trat dafür in den Vordergrund.
Diese verfälschte Meinung über die Kampfkünste hat sich bis heute hartnäckig gehalten und wird noch von der Mehrzahl der Lehrer vertreten, weil auch sie es nicht anders gelernt haben. Daher haben sie das Gelernte versportlicht und den westlichen Auffassungen von Sport angepasst. Die negativen Folgen dieser eigenwilligen Kreation liegen nur zu oft deutlich vor Augen: Häufige Verletzungen, ungesunde Bewegungsweisen, die auf  Dauer Schäden hervorrufen, und leider mitunter auch Verrohung zu Schlägertum.
Hinzu kommt noch, dass nur die wenigsten Kampfsportler ihren Sport bis ins Alter auszuüben in der Lage sind, weil sie meist aufgeben müssen, wenn sie mit der Trainingsgruppe nicht mehr mithalten können oder der Körper ihnen durch mehr oder weniger drastische Warnsignale zu verstehen gibt, dass er nicht länger gewillt ist, diesen Raubbau an der Gesundheit weiter zu tragen.
Die Meister, auf deren Tradition sich die Lehrer vieler Stile beziehen, haben ein hohes Alter erreicht und bis zum Schluß viel und gut geübt.
Doch ihre Übung war auch an den alten traditionellen Übungsinhalten orientiert, wo eine Verbindung zwischen geistiger Übung, Qi Gong, Meditation und Energieentwicklung gepflegt wurde. Eine Ausrichtung der Techniken an den westlichen Maßstäben des Sporttreibens war unüblich. Denn jede „gute“ Technik (also eine Technik, die effektiv ist und zugleich dem Übenden Gewinn bringt) kann angepasst an Alter und körperliche Situation verschieden, also individuell sein.7

Greifen wir noch einmal den Gedanken an die alten Meister auf, die selbst in hohem Alter noch imstande gewesen sind, ihre Gegner zu besiegen:
Man darf nicht vergessen, dass es in den Kampfkünsten kaum junge Meister gegeben hat. Um von den Schülern als Meister angesehen und respektiert zu werden, musste schon ein gewisses Alter erreicht worden sein, denn Meisterschaft war immer mit einem großen Erfahrungsschatz verbunden, den ein jüngerer Mensch schwerlich haben kann. Die alten Meister in den Kampfkünsten fielen meist damit auf, dass sie ihre Kunst zu ihrer wahren Essenz komprimiert hatten.
So waren es auch nicht Muskelkraft und Dynamik, die sie immer siegen ließen, sondern ihr geschärfter Blick für die Erfordernisse der Situation und ihrer schlichte und prompte Reaktion darauf. Viele der alten Meister wurden mit jedem Jahr stärker statt schwächer, da die innere Arbeit mit ihrer Vitalenergie und ihre Körperbeherrschung die rohe Gewalt der Jungen kompensierten.
So birgt auch jede Kampfkunst, die traditionell vermittelt wird, für jedes Alter das Richtige, und jung und alt können gleichermaßen das Richtige für sich dort finden.

Worin liegt also nun der entscheidende Unterschied zwischen Kampfkunst und Kampfsport ?
Man könnte es wie folgt ausdrücken: Körper und Geist sollten gleichermaßen an den Übungen beteiligt sein, um den Menschen als Ganzes zu kultivieren.
Entgegen der im Kampfsport verbreiteten Annahme gibt es keine äußere Technik, die nicht von inneren Übungen getragen wird. Es gibt aber viele Übende, die das nicht wissen oder aus Mangel an qualifizierter Ausbildung nicht in ihre Techniken umsetzen können. Jede äußere Übung (Wai gong) hat immer einen inneren Anteil an Geist- und Energielenkung (Nei gong), was sie zu Qi Gong werden lässt und grundsätzlich vom Sport unterscheidet. Alle Bewegungen der Kampfkünste müssen unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Und darin liegt im wesentlichen der Unterschied zwischen Kampfkunst und Kampfsport.





So weit also erst einmal Teil II meiner Ausarbeitung.
Ich möchte nun noch darauf hinweisen, dass meine nächste Veröffentlichung in diesem Blog wahrscheinlich nicht vor Ablauf der ersten Dekade des Juli zu erwarten sein dürfte, da ich mich bis dahin in fernen Gefilden und ohne Zugriff auf das Internet befinden werde.
Ich freue mich jedoch schon darauf, alle Leserinnen und Leser dann hier wieder begrüßen zu dürfen, und verbleibe in diesem Sinne mit dem Wunsch auf einige schöne, sonnige Sommerwochen

Euer Sifu Kai

Samstag, 1. Juni 2013

Die gute Idee für den Monat Juni



Liebe Leser und Leserinnen,

auch wenn das momentane Wetter berechtigte Zweifel daran zulässt, so beginnt doch mit dem heutigen Datum der meteorologische Sommer. Und dementsprechend möchte ich für den Monat Juni anregen, möglichst viel Zeit im Freien zu verbringen.

Vergessen wir nicht: In diesem Monat werden die längsten Tage und die kürzesten Nächte stattfinden, und mit der Sommersonnenwende wird die Sonne schon wieder ihren Sinkflug beginnen, der uns dem nächsten Winter unaufhaltsam näherbringen wird. Auch der vielstimmige Gesang der Vögel wird gegen Ende des Monats merklich verstummen, und wie das Getreide auf den Feldern und die Früchte an den Bäumen ihrer Ernte entgegenreifen, so werden die Tage dann auch bald schon wieder fühlbar kürzer und die Zeit, die es uns gestattet, unsere Aktivitäten ins Freie zu verlegen, wird sich viel zu rasch wieder reduzieren.
Daher gilt es, jeden langen Sommertag zu nutzen und möglichst viele Beschäftigungen im Freien auszuüben.

Der Formenlauf gerät ebenso wie die Meditation zu einem viel nachhaltigeren und gesünderen Erlebnis, wenn man sich diesen Betätigungen an der frischen Luft widmet. Aber auch spezifische Kraft- und Elastizitätsübungen lassen sich bestens im Freien durchführen. Das Training mit dem eigenen Körpergewicht kann man an jedem Ort angehen, ebenso lässt sich Waffentraining (z.B. Langstock und Doppelmesser) hervorragend in der Natur umsetzen, wo man zusätzlich zu der Anreicherung des Blutes mit frischem Sauerstoff noch Energien aus der Umgebung (Qi) tanken kann.
Wer würde angesichts dieser Argumente noch das miefig-verschwitzte Fitnessstudio einem bewegungsreichen Aufenthalt an der frischen Luft vorziehen?

Mit diesen Anregungen und Denkanstößen verbleibe ich einmal mehr,

Euer Sifu Kai

Montag, 13. Mai 2013

Die Wechselwirkung zwischen Qi Gong und Kampfkunst. Teil I.



Liebe Leserinnen und Leser,

anknüpfend an meine gute Idee für den Monat Mai möchte ich in den folgenden Beiträgen noch weiter auf das Thema Qi Gong eingehen. Zu diesem Zwecke beabsichtige ich, in drei Teilen meine schriftliche Ausarbeitung "Die Wechselwirkung zwischen Qi Gong und Kampfkunst" in diesem Blog zu veröffentlichen, die vor nunmehr gut vier Jahren den Abschluss meiner Ausbildung zum Tai Chi - und Qi Gong - Lehrer gebildet hatte. Diese Abschlussarbeit wird wissenschaftlichem Standard gerecht, das heißt, sie verfügt über einen wissenschaftlichen Apparat (Anmerkungen in Hochzahlen mit dem Nachweis des geistigen Eigentums anderer, dessen ich mich für die Entwicklung der eigenen Gedankengänge bedient habe; Literaturnachweis). Die Anmerkungen werden am Ende der Arbeit (und damit also mit der Veröffentlichung des dritten Teiles) auch in diesem Blog geliefert werden.
Nachfolgend präsentiere ich also nun das erste Kapitel der Arbeit:


  1. Zurück zu den Wurzeln – der Nutzen jahrtausendealten Wissens
Oftmals kann der Mensch aus dem Wissen, das sich über Jahrtausende hinweg von Generation zu Generation weitervererbt hat, auch in unserer heutigen modernen Zeit noch Gewinn ziehen. Das trifft in besonderer Form auf das Qi Gong zu.

Als frühester Begründer der chinesischen Heilkunde gilt der Gelbe Kaiser, und in dem von ihm entwickelten „Massieren, Leiten und Führen“ kann man wohl auch die Ursprünge des Qi Gong lokalisieren.1

Diese Therapieformen wurden in die Zeit der Streitenden Reiche (403 – 221 v. Chr.) überliefert, in der Zhuangzi weitere Techniken zur Gesunderhaltung des Menschen verbreitete. Daraus entstand überhaupt erst die Qi Gong – Entwicklung.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Tradition vorwiegend mündlich weitergegeben, und ihre Hauptverbreitungsorte waren buddhistische Klöster, daoistische Schreine sowie Volkssekten daoistischer und buddhistischer Richtung. Alle gebildeten Menschen beschäftigten sich in mehr oder minder großem Maße mit der Praxis des Qi Gong, denn ohne Beherrschung des Qi war es nach allgemeiner Ansicht unmöglich, sich mit irgendeiner wichtigen Sache zu beschäftigen, egal, ob das nun die Malerei, Kalligraphie. Poesie, Astronomie, das Bogenschießen oder Speerfechten anbelangte.2

Einige der Systeme des Qi Gong stehen mit dem Training der Kampfkünste in enger Verbindung. Die ursprünglich nicht kämpferischen Übungen fügte man zwischen die kämpferischen Bewegungen, um die aggressive Aktivität der direkten Kampftechniken auszugleichen und um den inneren Qi-Fluß nicht durch Ungleichgewicht zu unterbrechen. In dieser Ausprägung wurden sie in alle späteren Stile überliefert und sind in den heutzutage aktuellen Kampfkunstformen weiterhin vorzufinden.

Jedoch werden sie heutigen Tages meist isoliert betrachtet und oftmals im Sinne von Fitnessübungen missverstanden, doch die Meister betonen ausdrücklich, dass derartige Interpretationen Irrwege sind und nicht bis zur tieferen Bedeutung der Yi-jin-jing – Übungen vordringen. Vielmehr wurde in den Übungen die innere Arbeit betont. Die Idee der Yi-jin-jing wurde seit mehr als 1000 Jahren in den Kampfkünsten gepflegt und geübt. Man kann durchaus behaupten, dass beinahe alle Kampfkünste auf ihrer Basis entstanden oder zumindest von ihnen beeinflusst worden sind.

Oftmals wird im Westen der Fehler begangen, Qi Gong als eine Art Sport zu betrachten, besonders was die Kampfkünste anbelangt. Doch Qi Gong ist weit mehr und von den Inhalten sehr vielfältig. Es schult den Atem, beinhaltet die spirituelle Entwicklung und die Beruhigung des Geistes. Da es auf der chinesischen Medizin basiert, kann man es durchaus als ein abgeschlossenes Gesundheitssystem ansehen. Und vor allen Dingen lehrt es die Entwicklung und Lenkung des Qi, was natürlich nicht unter dem Aspekt des Sporttreibens zu erreichen ist. Auf all diese Aspekte sind die Bewegungen und Meditationstechniken abgestimmt. Sie werden zum Teil schon seit 3000 Jahren praktiziert, weiterentwickelt und verbessert. Ein Unterricht im Qi Gong darf daher auch nie von dem Gesichtspunkt eines sportlichen Trainings erfolgen, denn Qi Gong ist niemals einfach nur eine Bewegung, die man nachvollziehen kann, wie man heute in den Kampfkünsten beispielsweise die Formen übt. Qi Gong ist immer eine Übung für Körper und Geist gleichermaßen. Selbst wenn man die Muskeln und Gelenke exakt wie vorgegeben bewegen und alle Techniken von außen korrekt ausführen sollte, so bleibt dennoch alles nur Form im Sinne von einfacher sportlicher Gymnastik. Erst durch die wirklich hundertprozentige Konzentration, den gesammelten Geist, das aufrichtige In-sich- und Um-sich-Fühlen und die vollkommene Koordination von Körper und Geist wird aus zu erübenden Formen Qi Gong. Wer diesen Umstand erst einmal begriffen hat und sich danach richtet, der wird bald deutliche Veränderungen seiner selbst und seiner Techniken erfahren.3

Man darf vor diesem Hintergrund die chinesische Philosophie nicht außer Acht lassen, denn sie ist der Ausgangspunkt sämtlicher asiatischer Weg-Übungen, wobei der Daoismus dazu die Basis bildet. Die aufmerksame Betrachtung der Natur und deren Verständnis sind seine wesentlichen Merkmale. Durch die Beobachtung der Natur kann der Mensch die Rhythmen und die Regeln der Naturabläufe, denen der Mensch schließlich auch unterworfen ist, verstehen lernen. Durch sein Verständnis, das allein durch das „Herz“ und nicht durch den Intellekt gewonnen werden kann, vermag er auch sich selbst und seinen Platz in der Welt zu begreifen. Die Daoisten gehen davon aus, dass alle Wesen und Dinge der Welt eine eigene Aufgabe haben und einen vorgegebenen Rhythmus des Lebens in sich tragen. Darin besteht der ganz individuelle Teil der übergeordneten Naturgesetze des Dao. Versteht man das Dao, kann man mit sich selbst in Frieden und Harmonie leben. Zufriedenheit und intuitives Leben kennzeichnen diesen Zustand des Gefühls der Einheit mit der ganzen Welt.

Dieser Gedanke prägte auch die Kampfkünste wesentlich. Über viele Jahrhunderte hinweg waren die Kampfkünste ein Weg zu dieser geistigen Schule. Für viele waren sie keineswegs nur Selbstzweck, sondern der Weg, um zum „ganzen Menschen“ zu werden. Daher ist die Philosophie keineswegs ein bloßes Beiwerk, sondern vielmehr der Ausgangspunkt aller Kampfkünste gewesen. Dabei war das Endziel klar definiert: Es bestand in der vollkommenen Weisheit. Das Bild des Meisters, der in Gelassenheit und Ruhe lebt und immer angemessen und natürlich reagiert, stellte danach die höchste Stufe der Vervollkommnung dar.

Man kann dies als den Weg des Menschen umreißen, der nach dem Sinn des Lebens sucht und seine Persönlichkeit einer Schulung in Selbstbetrachtung unterwirft. Dieser Gedanke wurde später auch im Chan (Zen) aufgegriffen und bestimmte alle Künste in Asien.4

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Ich bitte die geneigten Leser, dass mitunter uneinheitliche Schriftbild zu entschuldigen. Dieser Umstand ist der Notwendigkeit geschuldet, den ursprünglichen Text von einem Word-Dokument hier in diesen Blog einfügen zu müssen.

In diesem Sinne verbleibe ich einmal mehr,

Euer Sifu Kai
 

Sonntag, 5. Mai 2013

Die gute Idee für den Monat Mai



Liebe Leserinnen und Leser,

nachdem mein alter PC nach zehnjähriger Dienstzeit vor einer Woche das Zeitliche gesegnet hatte, erscheint nun heute mit geringer Verspätung mein neuer Beitrag zum Monatsbeginn.

"Alles neu macht der Mai" - so besagt ein altes Sprichwort.
Und warum sollten nicht wir Menschen uns ein Beispiel an dem Erwachen und der Erneuerung in der Natur nehmen? Daher lautet mein Vorschlag für diesen Monat: Beschreitet den Weg der Selbsterneuerung und werft überflüssigen Ballast und drückende Altlasten von Euch!
Wie heilsam für die Seele eine solche "Erneuerungskur" sein kann, ist ja inzwischen vielfach wissenschaftlich / medizinisch belegt. Indem man sich von hemmendem und unnützem Ballast befreit, wird man auch wieder offener für Neues.

Diese Offenheit kommt auch wieder unserer Entwicklung in der Kampfkunst zugute.
Denn da sich die Gegebenheiten des Kampfes mit der Zeit immer weiterentwickelt und verändert haben, ist für den Kampfkünstler, der auch immer die realitätsorientierte Selbstverteidigung im Auge behalten sollte, nichts so schädlich, als wenn er in Doktrinen und festgefahrenen Verhaltensmustern, die früher vielleicht einmal Sinn ergeben haben mögen, unabänderlich verharrt. Eine Bereitschaft zur Anpassung an die modernen Gegebenheiten des Kampfes und zum Dazulernen in punkto Entwicklung der Kampfkünste, welche ja auf dem Zeitstrahl stetig voranschreiten und nicht etwa in der Feudalzeit stehengeblieben sind, wird ebenso notwendig erscheinen wie eben auch eine Trennung von inzwischen überholten und daher sinnlos gewordenen Verhaltensmustern.

Welche Qi Gong - Übungen uns nun dabei unterstützen können, wieder neue Energien zu tanken und dadurch auch offener für neue Impulse (auf allen Ebenen des Lebens) zu werden, sei durch die Verknüpfung zu folgendem Clip auf meiner Youtube-Präsenz veranschaulicht:

http://www.youtube.com/watch?v=XTMiO08IVj0

Ich demonstriere darin die Qi Gong Yang Cheng - Übungen, die sich ganz besonders zur Regeneration und Energiesammlung eignen.
Ausgehend von der Übung der "Stehenden Säule" (Zhang Zhuan Gong), die hier in der Ausprägung "Den Ball halten" gezeigt wird, beginne ich den Übungskomplex mit der Bewegungsform "Der grüne Drache trinkt Wasser". Danach folgt "Den Mond aus dem See fischen" und daran anschließend "Das Unendliche einatmen". Als nächstes präsentiere ich in dem Clip die Bewegung "Das Schwert des Lebens", um den Zyklus dann mit "Das Qi einatmen" abzuschließen. Am Ende wird dann nochmals die "Stehende Säule" mit der Übung "Den Ball halten" ausgeführt.
Wer diese Übungen regelmäßig und nach Möglichkeit im Freien, im besten Fall noch an einem (Fließ-)Gewässer ausübt, wird schon bald den reinigenden und stärkenden Effekt dieser Arbeit mit der Lebensenergie "Qi" verspüren.

In diesem Sinne bleibt mir nur noch, allen Mitlesenden einen energiegeladenen und freudvollen Wonnemonat Mai zu wünschen!

Euer Sifu Kai

Mittwoch, 3. April 2013

Die gute Idee für den Monat April



Liebe Leserinnen und Leser,

auch wenn es derzeit hierzulande noch nicht danach aussieht: Der Frühling steht vor der Tür.
Bald beginnt auch wieder die Strand- und Freibadsaison, und wer an diesen Orten eine möglichst gute „Figur abgeben“ möchte, sollte nun damit beginnen, den Körper wieder auf Sommerform zu bringen.
Ganz sicher betrifft es keinen einzigen der Mitlesenden, denn wir sind ja alle daran interessiert, unsere Körper das ganze Jahr über in trainiertem Zustand zu halten; für die wenigen Einzelfälle, die über den Winter vielleicht doch ein wenig das Training haben schleifen lassen, möchte ich dennoch für diesen Monat folgenden Vorschlag unterbreiten: Probiert doch einmal ein Training lediglich mit dem eigenen Körpergewicht (Bodyweight Training) anstatt nach Hanteln zu greifen oder gar im Fitnessstudio an Maschinen den Körper zu stählen!
Das Training mit dem Körpergewicht bietet viele Vorteile und hat erwiesenermaßen schon bei einer großen Anzahl von Menschen zu hervorragenden Resultaten geführt. Nicht umsonst nutzen inzwischen die Elitetruppen des Militärs – von den Navy SEALs über die Army Green Berets bis hin zu den Air Force Special Tactics Operators – diese Übungen als Basis ihres Krafttrainings. Man darf nicht vergessen, dass seit Tausenden von Jahren die größten Athleten der Menschheit sich eben nicht auf ein Fitnessstudio oder ein paar Hanteln verlassen haben – seien es nun die Olympioniken im antiken Griechenland (für die Kampfkunst von besonderer Bedeutung: das Pankration!) oder die militärischen Spezialkräfte von morgen.
Durch das Training mit dem eigenen Körpergewicht wird man in die Lage versetzt, genau dort zu trainieren, wo man sich gerade befindet, egal, ob im Wohnzimmer, Schlafzimmer, in der Garage, im Garten, im Büro oder wo auch immer. Der eigene Körper ist quasi das einzige „Gerät“, das immer bei einem ist. Er steht einem immer zur Verfügung. Auch wird man keine endlosen Stunden mehr im Fitnessstudio verbringen müssen, da sich die Trainingszeit mit dem eigenen Körpergewicht auf etwa zwei Stunden pro Woche (!) veranschlagen lässt.
Durch diese Form des Trainings werden außerdem nicht nur alle wichtigen Muskelgruppen, die für den Alltag benötigt werden, gekräftigt, sondern zusätzlich wird auch noch bewirkt, dass Muskeln und Gelenke beweglich und elastisch gehalten werden, die Leistung von Herz, Lungen und Körperorganen wird verbessert, die Anfälligkeit für häufige Verletzungen und degenerative Herzerkrankungen wird verringert und emotionale und nervliche Anspannung wird reduziert.
Und seien wir mal ehrlich: Wer glaubt denn wirklich, dass wir geschaffen wurden oder uns weiterentwickelt haben, damit wir Maschinen brauchen, um fit bleiben zu können?
Es ist einfach nur dem Mangel an Wissen über die Möglichkeiten des eigenen Körpers geschuldet, dass die ständige Nachfrage der Menschheit nach sinnlosen Fitnessspielereien am Leben erhalten bleibt.
Die Abhängigkeit von Geräten, Trainern und weitverbreiteten Irrtümern in der sogenannten Fitnessbranche sind genau genommen nichts anderes als Krücken, die einen davon abhalten, in die persönliche Bestform zu gelangen. So betrachtet könnte man meinen heutigen Beitrag auch als einen Aufruf zurück zur Natur werten.
Denn vergessen wir nicht – unsere Fitness sollte von nichts abhängen außer von uns selbst!

Wer sich nun für das Bodyweight Training interessieren sollte, dem kann ich guten Gewissens folgende Publikation empfehlen: Lauren, Mark: Fit ohne Geräte. Trainieren mit dem eigenen Körpergewicht. München 2011.
In diesem Buch lassen sich diverse Anleitungen zu sinnvollen Übungen mit dem eigenen Körpergewicht finden, die detailliert erklärt und mit Fotos veranschaulicht werden. Außerdem werden am Ende des Buches noch fertig ausgearbeitete Übungsprogramme für Einsteiger bis hin zu Spitzensportlern präsentiert.
Nun bleibt mir nur noch, allen Mitlesenden ein frohes und ertragreiches Training zu wünschen, auf dass der Sommer uns alle mit attraktiven Strand-Figuren antreffen möge!

In diesem Sinne verbleibe ich einmal mehr,

Euer Sifu Kai

Sonntag, 17. März 2013

Über die Vorteile der Verbandsunabhängigkeit

Liebe Mitlesende,

des öfteren wurde ich schon gefragt, warum ich mich als Sifu für Wing Chun keinem großen Dachverband (wie z.B. der EWTO oder der IWKA ) angeschlossen habe, sondern lieber verbandsunabhängig unterrichte.
Nun, einerseits gehöre ich ja der International Sifu Federation und dem Yip Man Martial Arts Sifu Council an, welche Fachabteilungen der Martial Arts Association – International sind, und andererseits möchte ich die betont unabhängige Unterrichtsweise meines Sifu fortführen, der stets systemübergreifend unterrichtet hat, auch wenn er vordergründig eine Orientierung an der Yip Man – Version des Wing Chun vorgenommen hatte, in die auch Elemente aus der Lo – Familie integriert worden sind. Da ich selbst auch die Unterrichtspraktiken der EWTO kenne und obendrein Einblicke in die Ideen der EBMAS und IWKA erhalten durfte, denke ich, dass ich die systemübergreifende Unterrichtsweise meines Lehrers in seinem Sinne werde fortführen können, denn für mich persönlich stellt der freie, unbeschränkte Geist (nicht nur in der Kampfkunst) die höchste Maxime dar.

Welche Vorteile bietet nun eine Verbandsunabhängigkeit?
Zuerst einmal muss man bedenken, dass leider nicht jede Wing Chun – Schule dem Schüler eine ehrliche, faire und vertrauenswürdige Basis bietet. Man darf nie vergessen, dass sich eine gute Wing Chun – Schule nicht durch die Kampfstärke des Lehrers auszeichnet, sondern durch die Art und Weise, wie Wing Chun vermittelt wird.
Auch existieren viele Schulen, die in den ersten Jahren (!) gar kein Wing Chun oder höchstens kleine Bruchstücke davon unterrichten. Ein Konglomerat aus diversen Verteidigungs- und „Defence“- Stilen wird da häufig als Wing Chun – Technik verkauft, und der unbedarfte Laie erkannt meist erst nach (mehr oder weniger verlorenen) Jahren, dass er nur Zeit vergeudet und eben kein Wing Chun gelernt hat.
Da es jedoch ganz offensichtlich keinen Sinn machen kann, Wing Chun als eine effektive Kampfkunst zu bezeichnen, dann aber zuerst etwas ganz anderes zu unterrichten, lehre ich nach den Maßstäben meines Sifu vom ersten Tag an offen und ehrlich und ohne alle Schnörkel oder sonstigen Verzierungen / Abwandlungen Wing Chun.

In einigen Wing Chun-Schulen gleichen die Verträge wahren Pflichtenkatalogen: Der Schüler wird im Regelfall auf 12 Monate zur Zahlung von Monatsbeiträgen, aber zusätzlich auch noch zur Zahlung von einem oder mehreren Jahresbeiträgen an verschiedene Unternehmen verpflichtet.
Der "Mitgliedsantrag" besteht oft aus zwei oder drei Verträgen mit diversen GmbHs oder GmbH&Co. KGs und enthält für den Schüler nur (Zahlungs-)Pflichten ohne die Gegenleistung detailliert zu beschreiben.
Bei mir hingegen zahlt der Schüler lediglich vor Beginn der jeweiligen Unterrichtseinheit an mich persönlich.
Erscheint er nicht zum Unterricht, braucht er auch nichts zu zahlen. Somit entsteht ein konkretes Vertrauensverhältnis aus Leistung und Gegenleistung. Der Schüler weiß genau, was er vom Unterricht erwarten darf und wofür er seinen Beitrag entrichtet.

In vielen Wing Chun-Schulen ist es üblich , dass der Schüler erst eine (kostenpflichtige) Prüfung ablegen muss, bevor er neue Programme erlernen darf. Bei mir erhält jeder die Chance, in seiner persönlichen Geschwindigkeit Schritt für Schritt das komplette Wing Chun-System zu lernen. Es gibt bei mir auch keinen Prüfungszwang, keine "Wartezeiten" oder sogenannte "Mindestvorbereitungszeiten".
Oftmals wird in einigen Schulen auch das Chi Sao überbewertet. Zwar darf der Spruch „Das Herz des Wing Chun sind die Chi-Sao-Sektionen“ seine Gültigkeit beanspruchen, nicht umsonst gibt es neunzehn Sektionen für das Chi Sao, jedoch betrachte ich den Umstand, die Schüler pro Sektion bis zu 250 € zahlen zu lassen, wie es nicht selten vorkommt, doch als Abzockerei. So darf es auch nicht verwundern, dass man in einigen Verbänden den Preis eines Oberklassekraftfahrzeuges einrechnen muss, bis man das komplette System erlernt hat.
Da das Chi Sao aber zum Wing Chun dazugehört wie die Blüte der Bäume zum Frühling, sehe ich keinen Sinn darin, diese Übungen aus dem Unterricht auszuklammern und extra bezahlen zu lassen. Das Chi Sao wird bei mir in das Training integriert und begleitet das Erlernen der Formen und der Partnerübungen.

Wie man sieht, ergeben sich aus der Verbandsunabhängigkeit einige nicht zu unterschätzende Vorteile, die vor allem den Schülern zugute kommen.

Um sich im Dschungel der diversen Verbände ein wenig orientieren zu können, präsentiere ich hier nun noch einmal einen groben Überblick über die Entwicklung des Wing Chun zu den heutigen – meist miteinander konkurrierenden – Dachverbänden:

Wing Chun wurde über Generationen hinweg nur im engsten Kreis weitergegeben. Erst unter Yip Man wurde Wing Chun auch in einer breiteren Öffentlichkeit unterrichtet.
Im Laufe der Zeit haben die von Yip Man unterrichteten Schüler ihre eigenen Schülergenerationen hervorgebracht. Zwischen den einzelnen Generationen bestehen Unterschiede in manchen Ansichten zu dem Wing Chun-System. Zur Unterscheidung nach außen wählten die Vertreter der unterschiedlichen Ansichten deshalb andere Schreibweisen.
Die chinesischen Schriftzeichen wurden von Yip Man als „Ving Tsun“ in lateinische Buchstaben umgesetzt. Diese Schreibweise verwendet auch die Wong Shun Leung-Linie. Einige seiner Schüler bevorzugten die amerikanische Schreibweise „Wing Chun“, so z.B. auch Bruce Lee, aber auch Yip Mans Söhne und William Cheung. Auch in Europa hat sich die Schreibweise „Wing Chun“ als übergreifende Bezeichnung weitgehend durchgesetzt  Yip Mans letzter Schüler Leung Ting verwendete zunächst zur Abgrenzung die Variante „Wing Tsun“ und später die zusammengezogene Schreibweise „WingTsun“.

Bruce Lee, der ebenfalls von Yip Man gelernt hatte, gründete sein eigenes Kampfkonzept namens „Jeet Kune Do“. Neben all diesen existieren einige weitere nahmhafte Schüler Yip Mans, die ihren eigenen Stil - und damit eben auch ihre eigene Schreibweise - begründet haben.
In Deutschland gibt es derzeit eine Vielzahl von Schreibweisen und Verbänden.

In der Hoffnung, mit diesem Beitrag meinen Standpunkt zum Thema Verbandszugehörigkeit ein wenig dargelegt zu haben, verbleibe ich wieder

Euer Sifu Kai



Freitag, 1. März 2013

Die gute Idee für den Monat März

Liebe Mitlesende,

nachdem ich für den Februar den Vorschlag unterbreitet hatte, Tätigkeiten des Alltags mit der schwächeren Hand auszuführen, möchte ich nun für den März anregen, öfter mal nur auf einem Bein zu stehen.
Wie wir alle wissen, schult das Stehen auf einem Bein das Gleichgewicht in besonderem Maße und stellt eine Herausforderung an den Gleichgewichtssinn und an die Koordination diverser Muskelgruppen des Körpers dar. Auf der Fotoillustration (entstanden im Jahr 2009) sieht man den Autor beim Üben einer Position aus der Zhan Zhuang Gong (Übungen der stehenden Säule), die dem Qi Gong zuzurechnen ist und in dieser Ausprägung die fortgeschrittene Version auf einem Bein der Figur "Den Baum umarmen" darstellt. Während bei dieser Übung auf einem Bein gestanden wird, während der Körper sich lediglich in einer ruhenden Position befindet, so kann man jedoch auch den Schwierigkeitsgrad noch steigern, indem man auf einem Bein stehend Bewegungen mit den oberen Extremitäten ausführt. Das Üben der Siu Nim Tao - Form auf einem Bein stellt im Wing Chun eine beliebte Trainingsmöglichkeit dar, zusätzlich zu den Handtechniken auch noch einen stabilen, verwurzelten Stand auszubilden und die Kraft in den Beinen zu schulen.
In der Kampfkunst entscheidet ein stabiler, verwurzelter Stand, der trotz alledem noch eine hohe Flexibilität erlaubt, zu einem großen Teil mit über den Erfolg im praxisorientierten Kämpfen. Ich möchte jetzt nicht eine Diskussion über die verschiedenen Lösungsansätze und Tauglichkeiten der Stände diverser Kampfkunstrichtungen (Stichwort: hohe und tiefe Stände) anstoßen, sondern will ganz einfach nur darauf hinweisen, dass eine gute Balance im Sinne eines harmonischen Körpergefühls und Gleichgewichtsempfindens für die Kampfkunst unablässlich ist.
Doch auch aus der Sicht der allgemeinen Gesundheitsvorsorge ist eine Schulung des Gleichgewichtssinnes sehr zu empfehlen. So kann dadurch dem tückischen und gefürchteten Altersschwindel vorgebeugt werden, der viele ältere Menschen von diversen Aktivitäten ausschließt, da sie von der Furcht beherrscht werden, sie könnten stürzen und sich ernsthafte Verletzungen zuziehen. Daher ist es auch aus gesundheitssportlicher Sicht äußerst sinnvoll, rechtzeitig daran zu arbeiten, sich ein stabiles Maß an Gleichgewichtssinn durch regelmäßige Übungen zu erhalten.
Bevor ich für heute zum Schluss komme, möchte ich noch anmerken, dass es neben den spezifischen Übungen noch vielerlei Möglichkeiten gibt, das Gleichgewicht zu schulen. So kann man beispielsweise einfach öfter mal auf einem Bein stehen, während man sich ankleidet, während man telefoniert oder während man sich die Haare kämmt... Dem Einfallsreichtum sind auch in dieser Hinsicht praktisch keine Grenzen gesetzt, so dass auch niemand eine ernsthafte Ausrede vorbringen kann, warum er die Schulung des Gleichgewichtssinnes eventuell vernachlässigt.
In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern viel Spaß beim Üben und verbleibe einmal mehr

Euer Sifu Kai

Sonntag, 17. Februar 2013

Über "Weichheit" im Wing Chun


Liebe Mitlesende,

nachdem ich jüngst wieder einmal in eine Diskussion über die Bedeutung von Weichheit im Wing Chun verstrickt worden bin, möchte ich Euch an meinen Ideen und Überzeugungen zu diesem Thema teilhaben lassen. Ich bin mir bewusst, dass es unterschiedliche Ansichten darüber gibt, und sicher dürfen diese Ansichten für die Vertreter anderer Linien innerhalb der großen Wing Chun - Familie auch ihre volle Gültigkeit und Berechtigung beanspruchen. Auch denke ich keinesfalls, dass ich mit meiner Auslegung, die sich im Rahmen der von mir erlernten Wing Chun - Linie bewegt, der Weisheit letzten Schluss für mich beanspruchen dürfte. Ich möchte lediglich meine Gedanken dazu präsentieren.

Die Weichheit im Wing Chun ist untrennbar mit den taoistischen Prinzipien verbunden. Letztendlich bedeutet Weichheit nichts anderes, als die Schwäche zur Stärke zu machen. Vergessen wir nicht: Wing Chun wurde von einer Frau entwickelt! Das bedeutet jetzt natürlich nicht, dass alle Wing Chun - Ausübenden Schwächlinge sein müssen.
Viel mehr sollte man bestrebt sein, Freude an der Harmonie zu empfinden und nicht mehr unbedingt "mit dem Kopf durch die Wand" zu wollen. Somit bedeutet "weich" im Wing Chun für mich keinesfalls "schwach". "Weich" heißt für mich flexibel, anpassungsfähig und geschmeidig zu sein. Als Gegensatz könnte man die Starrheit anführen, die mit den Attributen unbeugsam, tot und brüchig einhergeht.
Selbstverständlich sollte man sich nicht scheuen, die Muskeln einzusetzen, denn wie sonst könnte man wohl eine explosive Technik hervorrufen? In einer weichen Kampfkunst entspannt man zunächst daher alle Muskeln und setzt dann allmählich nach Bedarf immer weitere ein.
Um die Weichheit zu entwickeln empfehle ich speziell die Siu Nim Tao - Form sowie Chi Sao - Training.

Nun gibt es Stimmen, die berechtigterweise behaupten, dass sich ein Kampf - zumal für Anfänger - nicht allein durch Weichheit gewinnen lässt. Jedoch ist die Weichheit mit eine der Voraussetzungen, wenn man einen Kampf nach den Wing Chun - Prinzipien bestreiten möchte. Und dennoch wird die Praxis, die Schüler von Beginn an auf Weichheit zu trimmen, von manchen Wing Chun - Vertretern kritisiert. Diese Leute behaupten nämlich, dass der Schüler dadurch im Grunde um den Entwicklungsschritt der enorm wichtigen Struktur beraubt wird , indem man ihn ständig an die Weichheit gemahnt, ohne darauf hinzuweisen das ein Angriff auch mal recht hart und kraftvoll sein kann. Da wird wie folgt argumentiert: "Der Starke ist in erster Linie erfolgreich, was seine Selbstverteidigung angeht und quält sich nicht jahrelang mit 'Weichwerden' ab. Weich kann es ja immer noch werden. Dieser Prozess vom 'Harten zum Weichen' ist enorm wichtig für die Entwicklung des Schülers und darf unter keinen Umständen vorenthalten werden. Wenn ich nicht weiß was 'hart' ist, wie soll ich für mich einschätzen lernen, was mit 'weich' gemeint sein soll."
Auch wird von der selben Seite dann gerne darauf hingewiesen, dass es selbst im WT Stilrichtungen gibt, welche in ihrer "Härte" dem Karate in nichts nachstehen. So hätten die meisten hohen Meister nämlich vom Harten zum Weichen diese Entwicklung selbst beschritten - wer es nicht glaubt, sehe sich alte Bilder in Büchern oder Zeitschriften der üblichen Verdächtigen einfach mal genauer an.

Zu diesen Behauptungen möchte ich nun wie folgt Stellung nehmen:
Da ja das WT hier aufgeführt wurde, so darf doch nicht vergessen werden, dass Keith R. Kernspecht, der des öfteren auch schon als "Vater des WT in Europa" bezeichnet worden ist, auf eine lange Zeit in der Krafttrainingsszene zurückblicken kann und selbst den Weg von "harten" Stilen zum "weichen" WT beschreiten musste. Nach seiner eigenen Aussage tat er sich dabei längere Zeit nicht gerade leicht.
Ich selbst bin über harte Stile zum weicheren Wing Chun gekommen und hatte anfänglich auch Startprobleme, die sich erst im Rahmen von Privatunterricht beheben ließen.
Die Erkenntnis, dass ein Mehr an Kraft letztendlich den Ausschlag in einem Kampf geben kann, hatte ja bereits Eberhard Schneider in seinem Buch "Krafttraining für Kung Fu und Karate" dargelegt.
Nicht umsonst wird das Wing Chun - Training ja auch durch spezifische Kraftübungen belebt, die Arbeit mit dem Langstab sei hier nur als ein Beispiel genannt.
Dennoch ist nichts falsch daran, die Schüler von der ersten Stunde an auf Weichheit zu trimmen. Und dieses Konzept besagt ja noch lange nicht, dass ein Angriff (der ja bekanntlich auch die beste Verteidigung ist) nicht trotzdem auch explosiv und daher kraftvoll vorgetragen werden kann. Es mag ja sein, dass der Starke (im Sinne von physischer Überlegenheit durch Körpergewicht und Muskelmasse) mit seiner auf Härte und brachialer Gewalt, wo meist Kraft gegen Kraft gesetzt wird, so dass der Kräftigere letztendlich Sieger bleiben wird, basierenden Selbstverteidigung erfolgreich ist. Nur hat das dann mit den Wing Chun - Prinzipien nur noch herzlich wenig zu tun. Und ich denke eben nicht, dass dieser Typus Kämpfer noch eines Tages wirkliche Weichheit erlangen wird.
Wie der weiter oben bereits genannte "Vater des WT in Europa" einmal recht treffend anmerkte: "Wer in der Jugend hart beginnt, wird im Alter nicht weich, sondern höchstens schwach und brüchig".
Mir ist auch keine Wing Chun - Stilrichtung bekannt, die in ihrer Härte dem Karate ähneln würde. Und wie wir sicher alle wissen, gibt es auch im Karate innerhalb der einzelnen Stilrichtungen noch Unterschiede und Abstufungen in punkto Härte bzw. relative "Weichheit".
Ich denke daher, wenn man schon die Chance hat, einem Schüler, der nicht zuvor durch härtere Stile für die Weichheit "verdorben" worden ist, gleich von Beginn an die Weichheit zu vermitteln, dann wäre es ein Fehler, diese Chance nicht zu nutzen. Denn als Sifu darf man in erster Linie nur eines im Auge haben: das Wohl und den Fortschritt seiner Schüler.

Letztendlich muss man in diesem Zusammenhang das Wissen um das Zusammenwirken der Kräfte Yau und Gong hinzuziehen. "Yau" entspricht dabei der Federkraft - sie ist passiv, weich, elastisch, federnd und flexibel.
"Gong" hingegen ist die primitive, brutale Kraft, die bei obigem Beispiel dann durch die brachiale Selbstverteidigung des "Starken" symbolisiert werden würde. Die im Wing Chun angewandte Kraft ist Yau.
Das bedeutet nicht, wie manche Kampfsysteme irrtümlich glauben, dass es sich um eine schwache Kraft handeln muss. Denken wir doch z. B. einmal an die Feder in einem Auto. Auch innerhalb der Yau-Kraft kann man diffe­renzieren zwischen einer großen und einer kleinen Kraft, ebenso wie es große und kleine Federn gibt. Es gibt starke und schwache Yau-Kräfte; wie es starke und schwache Federn gibt.
Daher ist der Unterschied zwischen Yau und Gong nicht quantitativ, sondern qualitativ zu bewerten.

Ich habe als Illustration zu dem heutigen Beitrag frische grüne Weidenruten gewählt.
Ganz bewusst habe ich mich gegen die Darstellung von Bambus oder Rattan, die sonst so gerne in ähnlichem Zusammenhang in der Kampfkunstwelt aufgeführt werden, entschieden. Denn die Weidenrute ist einerseits extrem "weich" und biegsam, kann aber auch aufgrund ihrer Elastizität in einer federnden Schnellbewegung eine erstaunliche Kraft entfalten. Jeder, der schon einmal einen Hieb mit einer solchen Rute erhalten hat, wird nachvollziehen können, was ich hiermit verdeutlichen will.
Außerdem gilt die Weide in China als Symbol für den Frühling, und Wing Chun bedeutet nun einmal so viel wie "immerwährender Frühling"...

In der Hoffnung, dass der Frühling auch meteorologisch bald hierzulande Einzug halten möge, verbleibe ich wieder

Euer Sifu Kai

Sonntag, 10. Februar 2013

Das Jahr der Schlange hat begonnen...


Liebe Leserinnen und Leser,

das chinesische Jahr der Schlange hat begonnen. Die Chinesen sagen den Menschen, die im Jahr der Schlange geboren wurden, einige interessante Eigenschaften nach: gutes Aussehen, Charme, Intelligenz, Entschlussfreudigkeit und eine scharfe Beobachtungsgabe. Wenn die Charaktere eher zu der dunklen Seite tendieren, dann können sich zu den vorher genannten positiven Eigenschaften auch noch Aggressivität und Tyrannei hinzugesellen.
Ein lateinisches Sprichwort belegt die Schlange mit folgenden mahnenden Worten: Nemo me impune lacessit.
Das ließe sich in etwa wie folgt übertragen: Niemand tritt mir zu nahe (beleidigt mich), ohne verletzt zu werden. Diese Erkenntnis kann man auch trefflich auf die anzustrebende charakterliche Eigenart eines Wing Chun - Kämpfers anwenden, die sich in den Worten zusammenfassen lässt: Ich kümmere mich um meine eigenen Angelegenheiten, aber wenn du Ärger suchst, dann werde ich dir eine Welt voller Schmerzen verschaffen.

Ich wünsche allen Mitlesenden ein frohes chinesisches Neujahr und möchte alle ermuntern, in diesem Jahr die besondere innere Einstellung der Schlange zu beherzigen und mitunter auch nach außen zu tragen.

Euer Sifu Kai

Freitag, 1. Februar 2013

Die gute Idee für den Monat Februar

Liebe Mitlesenden,

"das mache ich doch mit links" - so besagt eine Redewendung.
Daran anknüpfend, möchte ich für diesen Monat den Vorschlag unterbreiten, mehr Tätigkeiten mit der "schwacheren" Hand auszuüben. Da der phänotypische Anteil der Linkshänder in der Bevölkerung mit 10 bis 15 Prozent angegeben wird, gehe ich in meinen Ausführungen jetzt von der rechten Hand als der stärkeren aus. Für alle Linkshänder gilt daher, dass sie einfach nur die Überlegungen für ihre Voraussetzungen umzustellen brauchen.
Speziell in der Kampfkunst ist es notwendig und von unschätzbarem Vorteil, wenn man in der Lage ist, mit beiden Händen weitestgehend gleichwertig zu agieren. Diese Fertigkeit wird ja bereits im Formenlauf von Beginn an geschult und entwickelt. Wer sich mit dem weiten Feld des Waffentrainings beschäftigt (ob nun im mittelalterlichen europäischen Waffenkampf, in den FMA oder in anderen Kampfkünsten wie etwa im Kobudo oder im Mu Ki Do, um nur einige davon zu nennen), wird anfänglich noch die Schwierigkeiten spüren, die sich auf dem Wege zu einem Generalisten der Beidhändigkeit vor einem auftürmen. Die weniger gut ausgeprägte Koordination und Griff- wie Schlaghärte der "schwächeren" Hand wird sich in der ersten Phase des Lernens nicht verbergen lassen. Doch mit der Zeit wird man auch mit der ansonsten eher vernachlässigten Hand geschickter und sicherer, bis endlich der Unterschied zwischen den beiden Händen auf ein Minimum reduziert sein wird. Natürlich bleibt das Idealziel einer völligen Gleichwertigkeit beider Extremitäten immer anzustreben.
Im Wing Chun entwickelt die Bart Cham Dao - Form, die den weit fortgeschrittenen Ausübenden, der zu diesem Zeitpunkt meist bereits selbst eine Lehrtätigkeit aufgenommen haben wird, an die Handhabung der Doppelmesser (auch manchmal als "Schmetterlingsmesser" bezeichnet, wobei man in diesem Falle keiner Verwechslung mit dem philippinischen Balisong, das in der Umgangssprache als "Butterflymesser" bekannt geworden und durch Jugendgruppengewalt leider in Verruf geraten ist, unterliegen darf) heranführt und quasi die "höchste Weihe" in diesem Kampfkunstsystem darstellt, bestens die Verwendung beider Hände für diverse Aktionen, die in Kombination mit Schrittmustern und Körperwendungen dem aktiven Wing Chunler noch einmal einen besonderen Feinschliff verpasst und zu völlig neuen Erkenntnissen in dieser Kampfkunst führen kann.
Ich möchte meine Leser nun heute dazu ermuntern, auch im Alltag und daher außerhalb ihres eigentlichen Kampfkunsttrainings die "schwächere" Hand zu schulen, indem ganz bewusst mehr Tätigkeiten mit eben dieser Hand ausgeführt werden sollen. Zu diesem Zwecke werden sich für jeden ganz individuelle und nahezu unbegrenzte Möglichkeiten finden lassen, die nicht nur zu einer veränderten Wahrnehmung und Weltsicht, sondern auch zu einer größeren Flexibilität und Vielseitigkeit führen können. Von einer besseren Verknüpfung der linken mit der rechten Gehirnhälfte und anderen neuro-wissenschaftlichen Erwägungen möchte ich an dieser Stelle schweigen.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern viel Spaß bei der Erprobung der Fähigkeiten der "schwächeren" Hand und verbleibe wieder bis zum nächsten Beitrag

Euer Sifu Kai

Donnerstag, 17. Januar 2013

Über den Unterschied zwischen Trainer und Sifu

Liebe Mitlesende,

immer wieder einmal begegnet mir die Frage, worin denn eigentlich der Unterschied zwischen einem Trainer und einem Sifu liege. Auch kommt es immer mal wieder vor, dass hoffnungsvolle Schüler mit einer komplett falschen Vorstellung den Unterricht im Wing Chun antreten. Daher möchte ich heute den Unterschied zwischen einem Trainer und einem Sifu herausarbeiten.
Da ich selbst auch als (Diplom-)Trainer für WDS und Thai-Kick-Boxen tätig bin und obendrein als Chief-Instructor für das von mir ins Leben gerufene Everyday Life Combat / Reality Fighting fungiere, kann ich aus meinem eigenen Erlebnishorizont den Unterschied zu der Tätigkeit eines Sifu wohl recht gut beurteilen.
Denn die Herangehensweise an die Unterrichtsgestaltung und vor allem das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer ist beim von mir angebotenen Wing Chun und auch beim Tai Chi und Qi Gong eine völlig andere als bei den "verwestlichten" Kampfsport- und Selbstverteidigungssystemen.
Zuerst einmal muss man sich darüber klar werden, dass in der Welt des Wing Chun andere Gesetze herrschen als außerhalb dieser Kampfkunst. Nach der Tradition des chinesischen Kampfkunstunterrichtes wird die Tätigkeit eines Sifu keinesfalls als eine Dienstleistung angesehen, wie es in den moderneren Kampfsportarten der Fall ist. Der Sifu ist daher ganz sicher nicht der Diener seines Schülers, und die Leistung wird im Unterricht vom Schüler verlangt und nicht vom Lehrer.
Wem diese Vorstellung nicht behagt, der ist sicher besser beraten, eine verwestlichte Kampfsportart zu erlernen, wo der Lehrer eben kein Sifu , sondern ein Trainer ist. Denn zweifellos sind im Wing Chun Philosophie und Technik auf eine untrennbare Weise miteinander verbunden, so dass man als Schüler gewisse Regeln eben einfach akzeptieren und sich ihnen unterwerfen muss, wenn man es mit der völlig freien Entscheidung für einen Unterricht im Wing Chun auch wirklich ernst meint.
Beispielsweise wird im Wing Chun generell vor dem Unterricht bezahlt. Doch ist es dann nicht etwa der Lehrer, der sich für das erhaltene Geld zu bedanken hat, sondern der Schüler bedankt sich bei seinem Sifu, dass dieser das Geld annimmt und seine Einwilligung gibt, diesen Schüler zu unterrichten.
In der Regel liegen die Kosten für Unterricht im Wing Chun auch etwas höher als bei den anderen Kampfsportarten. Dennoch kann man sagen, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis im Wing Chun eine Schieflage aufweist: Der Lehrer gibt nämlich mehr, als der Schüler zu zahlen hat.

Gar nicht so selten kommt es vor, dass neue Schüler der irrigen Auffassung anhängen, sie hätten für ihr Stundenhonorar den Sifu gekauft. Dementsprechend fällt dann auch ihr Verhalten aus. Diese Schüler stellen sich dann in den Kwoon (die Trainingsstätte) und scheinen darauf zu warten, dass der von ihnen vermeintlich gecharterte Lehrer mit ihnen etwas anstellt. Dabei verkennen sie die Tatsache, dass sie diejenigen sind, die trainieren sollen. Die Aufgabe des Sifu besteht darin, seine Schüler zu beobachten, zu korrigieren und ihnen neuen Stoff zu geben, wenn der alte wirklich beherrscht wird.
Dabei darf man nicht vergessen, dass Wing Chun kein Schnellkursus ist, den man in wenigen Wochen absolvieren könnte. Letztendlich bleibt man im Wing Chun ständig ein Schüler, wird man sich als ein ewig Suchender verstehen müssen. Mit noch so viel Übungs- und Unterrichtspraxis wird es im Wing Chun doch immer möglich bleiben, persönlich neue Erkenntnisse zu erfahren beziehungsweise sich neue Bereiche zu erschließen. Mit dieser notwendigen Bereitschaft zu ständigem Lernen geht aber auch die Notwendigkeit einher, ständig ein Schüler bleiben zu müssen. So wird auch ein Sifu immer der Schüler seines Lehrers bleiben, ähnlich wie ein Vater auch immer der Sohn seines Vaters bleiben wird.
Aus der Notwendigkeit zu der Bereitschaft zu ständigem (Dazu-)Lernen erwächst aber auch die Erkenntnis, dass Kritik eben nicht schädlich oder bösartig ist, sondern vielmehr die Triebfeder zu der individuellen Fortentwicklung. Nicht umsonst besagt ein altes Sprichwort: "Wer mir schmeichelt, ist mein Dieb. Wer mich kritisiert, ist mein Lehrer". Dementsprechend ist Kritik auch nicht bloß das Recht eines Lehrers, sondern vielmehr seine Aufgabe und heilige Pflicht.
Wer all das begreift, der wird seinen Sifu auch nicht als seinen Feind ansehen, der durch seine Kritik eventuelle Träume von der eigenen Großartigkeit zu zerstören trachtet. Unterrichtet werden heißt ganz einfach kritisiert werden. Damit muss ein Schüler des Wing Chun umzugehen verstehen beziehungsweise muss er es lernen, sein Ego so weit hintanzustellen, dass er Kritik nicht mehr als persönlichen Angriff auffasst.
Wer um die Gefahr, die in diesem Zusammenhang aus einem übergroßen Ego erwachsen kann, weiß, kann sich auch aus ihr befreien. Der größte Feind des Schülers ist die Ungeduld und die Selbstüberschätzung.
Da wird von einem Sifu auch eine behutsame Vorgehensweise und ein "geschicktes Händchen" im Umgang mit Menschen verlangt, denn ganz sicher ist der Schüler auch nicht der Leibeigene seines Sifus.
Das Verhältnis zwischen Geben und Nehmen sollte immer möglichst ausgeglichen bleiben.
So wird im Unterricht auch in der Regel nicht der ermutigt, der seine Sache gut macht, sondern der, der unsicher ist und meint, seine Kräfte (die hier nicht im physischen Sinne verstanden werden sollen) reichten nicht aus. Daher wird einem unvermeidbaren und erstmaligen Fehler auch nicht mit Tadel begegnet.
Wie heißt es doch in den Aufzeichnungen von Konfuzius ( * 551 v. Chr. - 479 v. Chr. ) so treffend:
"Einen Fehler begehen und ihn nicht wieder gut machen ( im Sinne von: sich nicht ändern, Anm. d. Verf.), erst das heißt fehlen."
Um abschließend das besondere Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer im Wing Chun charakterisieren und den Unterschied zwischen einem Trainer und einem Sifu begreiflich machen zu können, sei hier noch einmal Konfuzius das Wort erteilt, als er sich zu seinem Verhältnis zu den Schülern äußerte:
"Wem es nicht ernstlich darum zu tun ist, etwas zu lernen, dem erteile ich nicht meinen Unterricht, wer sich nicht wirklich bemüht, sich auszudrücken, dem helfe ich nicht nach. Habe ich eine Ecke gezeigt und er kann nicht von sich selber auf die anderen drei kommen, ist es bei mir vorbei mit dem Erklären."
Diese Worte dürften prägnant den Unterschied zwischen Trainer und Sifu skizzieren.
Keine Frage - ich übe beide Tätigkeiten mit der selben Gewissenhaftigkeit und Leidenschaft aus, denn das Wohl meiner Schüler liegt mir in allererster Linie am Herzen. Für welchen Weg sich die jeweiligen Schüler jedoch entscheiden, ob für den Weg der traditionellen Kampfkunst oder für die mitunter leichtere Kost des Kampfsports, das muss ganz den individuellen Vorstellungen und Bedürfnissen der Schüler vorbehalten bleiben. Nur müssen sie um die Unterschiede auch wissen, wenn sie eine den eigenen Interessen entsprechende Wahl treffen und eine gedeihliche Entwicklung beschreiten wollen.
Wenn ich mit meinem Blog hier und dem bescheidenen Wissen, das ich darin zu teilen bereit bin, einen Beitrag zu einer solchen Entscheidungshilfe leisten kann, dann sollen meine Worte nicht vergebens sein und ich dürfte mich dann glücklich schätzen.

Euer Sifu Kai

Donnerstag, 3. Januar 2013

Die gute Idee für den Monat Januar

Mit dem Januar ist auch ein neues Jahr angebrochen, und somit wünsche ich allen meinen Leserinnen und Lesern ein gesundes und harmonisches Jahr 2013.
Das chinesische Neujahrsfest wird hingegen heuer erst am 10. Februar begangen, daher befinden wir uns nach dem chinesischen Kalender noch im Jahr des Wasser-Drachen.
Zum Jahreswechsel beladen sich ja viele Menschen mit "guten Vorsätzen" für das neue Jahr, und nur zu oft werden diese Vorsätze dann recht schnell wieder aufgegeben. Das muss nicht unbedingt an einer Willensschwäche der betreffenden Personen liegen, sondern viel mehr daran, dass man sich einfach zu viele Vorsätze aufgebürdet hat oder dass das Vorhaben einfach zu hoch gegriffen ausgefallen ist.
Auch in dieser Hinsicht gilt der alte Grundsatz: Weniger ist mehr.
Daher möchte ich heute die Empfehlung formulieren, dass ein wirklich sinnvoller Vorsatz für das neue Jahr darin bestehen könnte, sich mehr bewegen zu wollen.
Schon eine halbe Stunde Bewegung täglich dürfte die Lebensqualität steigern und den tückischen westlichen Wohlstandskrankheiten vorbeugen. Besonders wertvoll erscheint in diesem Zusammenhang die Bewegung an der frischen Luft. Nun ist gerade der Monat Januar ganz sicher in den hiesigen Breitengraden nicht gerade für ein einladendes Wetter bekannt, dennoch sollte man darauf bedacht sein, sich möglichst täglich für wenigstens eine halbe Stunde im Freien aufzuhalten und zu bewegen. Dass man dabei auf eine der Witterung entsprechende Kleidung achten muss, versteht sich eigentlich von selbst.
Ob man nun im Freien seine Formen läuft oder Qi Gong betreibt, ob man einfach nur etwas rascheren Schrittes einen Spaziergang unternimmt oder doch lieber gleich einen Dauerlauf hinlegt - der Anlass der Bewegung an der frischen Luft ist dabei weniger entscheidend als die Tatsache der Bewegung an sich.
Im Freien können wir mehr Licht tanken als in Räumlichkeiten, auch wenn die Luxzahl in den Wintermonaten natürlich nie mit der strahlenden Helligkeit der Sommermonate wird mithalten können. Zwar hat mit der Wintersonnenwende die Sonne bereits wieder ihren Siegeslauf begonnen, jedoch wird es noch einige Wochen dauern, bis wir die Auswirkungen des steigenden Sonnenstandes auch wirklich merklich werden genießen können.
Daher mein Tip für diesen Monat: Geht hinaus an die frische Luft und trachtet nach Bewegung!
Nur so lässt sich die Gesundheit in ihrer Gesamtheit fördern beziehungsweise erhalten, getreu dem Motto "Mens sana in corpore sano".
In diesem Sinne wünscht Euch einen aktiven und bewegungsreichen Monat Januar

Euer Sifu Kai