Samstag, 29. März 2014

Messerabwehr in der Selbstverteidigung - Sinn oder Unsinn?

Liebe Leserinnen und Leser,

wer sich ernsthaft mit dem weiten Feld der Selbstverteidigung beschäftigt, wird nicht umhin kommen, sich auch der Problematik des Themas Messerabwehr zu widmen.
Gerade in Zeiten, wo Gewalttaten immer häufiger unter Zuhilfenahme einer Stichwaffe begangen werden, wäre es sträflich, wenn man die Messerabwehr ignorieren würde.
Zum Glück werden Schusswaffen auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der alltäglichen Kriminalität noch immer eher selten eingesetzt, doch die Zahl der Straftaten, wo Messer mit im Spiel waren, steigt kontinuierlich an.

Straftäter sind oftmals feige Menschen, die sich hinter einer Waffe verstecken. Auch kann es durchaus vorkommen, dass zwar bei Beginn der Straftat keine Waffe verwendet wird, diese dann aber aufgrund der Gegenwehr des Opfers doch zum Einsatz gelangt. Daher muss man auch während eines ohne Waffen vorgetragenen Angriffes immer damit rechnen, dass der Gegner jederzeit eine Waffe ziehen und gegen einen verwenden könnte.

Attacken mit Messern sind keine Spielerei! Jeder Messerangriff kann tödlich enden, folglich muss man jedem Angreifer, der ein Messer gegen uns ins Felde führt, eine Tötungsabsicht unterstellen. Darüber muss man sich von Anfang an klar werden. Denn aus dieser Erkenntnis resultiert unsere psychische Grundhaltung solchen Angreifern gegenüber. Und diese Grundhaltung muss uneingeschränkt lauten: Erhaltung des eigenen Selbst, zur Not auch unter Vernichtung des Angreifers. Dieser unbedingte Überlebenswille und Selbsterhaltungstrieb muss immer wieder geschärft und genährt werden, damit man im Ernstfall überhaupt den Hauch einer Chance haben kann und zum eigenen entschlossenen Handeln befähigt wird.

Unter den drei Waffenarten (als da wären: Schusswaffe, Stichwaffe, stumpfe Hiebwaffe) sind Stichwaffen oder Messer am schwersten abzuwehren, natürlich immer vorausgesetzt, dass die Waffe sich in Reichweite befindet. Bereits kleine Veränderungen beim Angriff erfordern relativ große Veränderungen bei der notwendigen Abwehr.
Im Gegensatz zu Schusswaffen kann ein Messer nicht gegriffen werden. Anders als bei Hiebwaffen geht von Messern auch dann noch eine Gefahr aus, wenn der Verteidiger nah an den Angreifer herantritt.
Um die grundlegenden Prinzipien der Messerabwehr zu verstehen, muss man erst einmal eine Kenntnis darüber vermittelt bekommen, wie Messer im Allgemeinen gehalten werden. Es existieren drei Grundbegriffe beziehungsweise Arten von Messerstichen: Messerstich von oben (sog. Dolchhaltung),


Messerstich von unten



und gerader Messerstich.



Darüberhinaus können Messer bekanntermaßen nicht nur zum Stechen, sondern auch zum Schneiden eingesetzt werden. Daraus resultiert eine breite Anwendungspalette in Bezug auf mögliche Angriffstechniken, mit denen man sich konfrontiert sehen könnte.

Nun aber zu der Messerabwehr an sich:
Bei ausreichendem Abstand zum Angreifer bieten sich Tritte an, um die Distanz zu Messer zu wahren. Eine Faustregel für die Trittabwehr gegen Messerangriffe lautet: Bei tief gehaltenem Messer sollte man hoch treten, bei hoch gehaltenem Messer sind tiefe Tritte angesagt.
Leider ist jedoch davon auszugehen, dass ein Angriff überraschend vorgetragen wird, so dass man sich mit den Händen wird verteidigen müssen. Selbstverständlich empfehle ich immer, jedes erdenkliche Hilfsmittel zu unserer Verteidigung heranzuziehen. Alle Alltagsgegenstände, die wie ein Schild wirken oder unsere eigene Verteidigungsfähigkeit erhöhen können, sollten daher auch in unsere Verteidigungshandlung mit einbezogen werden.
Nun kann es aber vorkommen, dass wir nicht auf derlei Hilfsmittel zurückgreifen können. Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als mit bloßen Händen gegen den Angreifer vorzugehen.
Sehr enge, schräg geführte Messerstiche können wie ein gerader Stich aussehen. Daher ist es notwendig, im Training immer das Erkennen des Griffwinkels zu üben. Ein Beispiel: Kommt der Arm des Angreifers geradlinig auf einen zu, wobei die Klinge jedoch nach außen zeigt, dann handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen schräg geführten Messerstich. Einen derartigen Angriff kann man nicht wie einen geraden Stich parieren, da man aufgrund des abgewinkelten Messers nicht an den Arm gelangt.

Das Entwaffnen von Angreifern sollte zwar erlernt werden, aber Erfahrungen aus der Realität und aus dem praxisorientierten Training haben gezeigt, dass es nicht immer möglich sein wird. Daher ist es umso wichtiger, sich an einem bestimmten Punkt aus dem Kampf zu lösen:

1. Abwehren und kontern, dann zurückziehen und nach hilfreichen Gegenständen oder Waffen suchen.

2. Abwehren, kontern und Kniestöße folgen lassen, dann zurückziehen und nach hilfreichen Gegenständen oder Waffen suchen.

3. Abwehren, kontern und Kniestöße folgen lassen, dann mit zwei Händen die Waffe fixieren und kontern.  

Um Illusionen zu vermeiden und das Messerabwehrtraining möglichst realistisch zu gestalten, sollten die Aktiven den eigenen Grad der Bereitschaft kennen.  Sobald sie ausreichend mit der Technik vertraut sind und die Grundlagen beherrschen, sollten sie lernen, die Abwehr in den unterschiedlichsten Stadien einzusetzen.
Zu diesem Zweck erfolgt eine Unterteilung der Stadien nach folgendem Schema:

Sehr früh: Man schafft es, die Hände auszustrecken, aber auch mit den Füßen vorzupreschen, während das Messer noch weit weg ist.

Mäßig früh: Man schafft es, die Hände auszustrecken und das Gewicht weit nach vorne zu verlagern, die Füße bewegen sich dabei anfangs aber nur minimal.

Mäßig spät: Man schafft es, die Hände auszustrecken und das Gewicht ein wenig in die Abwehr und den Konter zu legen, die Füße bewegen sich aber kein bisschen.

Sehr spät: Man schafft eine instinktive Reflexbewegung zur Abwehr und einen Gegenangriff, ohne dabei jedoch das Gewicht nach vorne verlagern zu können. In diesem speziellen Fall sollte man so viel Gewicht in Abwehr und Konter legen wie möglich. (1)

Im Laufe meines Budo-Werdegangs bin ich in den vielen Stilen und Systemen, die ich erlernte, auch immer wieder den verschiedensten Ansätzen zum Thema Messerabwehr begegnet.
Rückblickend muss ich nun feststellen, dass ich viele der gelehrten Abwehren von Messerangriffen aus meiner heutigen Einschätzung heraus als selbstmörderisch bezeichnen würde. Zu Zwecken der Vorführung und der Show wirkte vieles davon sehr glatt und gelungen und einfach nur "cool". Doch im Ernstfall würde ein Großteil dieser Techniken nicht funktionieren beziehungsweise er würde den Anwender in eine inakzeptable Eigengefährdung hineinziehen.

Die Systeme, die ich für eine realitätsorientierte Messerabwehr nach wie vor als geeignet bezeichnen würde, lauten:
FMA (Filipino Martial Arts),
WDS (Weapon Defense System),
Krav Maga       und
Wing Chun (mit Einschränkungen).

Ich möchte hier deutlich betonen, dass es sich bei dieser Einschätzung um meine persönliche Meinung handelt, die selbstverständlich allein schon durch den Umstand, dass ich natürlich bei weitem nicht alle Kampfsysteme der Welt aus eigenem Kennenlernen heraus beurteilen kann, ihre Einschränkung erfahren muss.

Im von mir selbst entwickelten Everyday Life Combat / Reality Fighting finden die Einflüsse, die durch die oben aufgelisteten Systeme auf mich einwirkten, ihre Umsetzung. Daher kann ich guten Gewissens behaupten, dass in dem von mir kreierten Kampfsystem auch zum Thema Messerabwehr nur die tauglichsten Techniken und Prinzipien gelehrt werden.

Um mit den unterschiedlichsten Variationen von Messerattacken umgehen zu können, verwendet das Everyday Life Combat / Reality Fighting für sämtliche bewaffneten Angriffe weitestgehend dieselben Abwehr- und Blockbewegungen wie für die unbewaffneten Attacken.
Durch den Schwerpunkt auf einer Kombination von Block- und Checkbewegungen kann der waffenführende Arm des Angreifers sicher unter Kontrolle gebracht werden, wobei man trotzdem weiter in der Lage sein wird, Kontertechniken innerhalb von Sekundenbruchteilen am Gegner anzubringen.

Für alle Angriffe, die mittels Klingenwaffen vorgetragen werden, gilt der Grundsatz, dass man sofort nahe an den Gegner herantreten und die Waffenhand kontrollieren muss.
Daher muss auch bei derartigen Attacken ausschließlich immer das Prinzip der Erstschlagunterbrechung zur Anwendung gelangen. Ein Ausweichen nach hinten, das zwar die Waffe meidet, muss als sinnlos angesehen werden, da der Angreifer ja sicher sofort erneut attackieren wird, bis er schließlich sein Ziel erreicht haben würde.
Aus diesem Grunde kann die einzig sinnvolle Lösung lauten, unverzüglich "in den Mann hineinzugehen". Dies erscheint umso angsteinflößender, wenn eben Waffen zum Einsatz kommen. Eine Waffe - egal ob Schusswaffe, Stich- oder Hiebwaffe - ist immer beängstigend und wirkt unweigerlich auf die Psyche ein. Der Kontakt mit der Waffe kann schwere Verletzungen hervorrufen, anders als beim unbewaffneten Kampf, wo der Kontakt mit einem angreifenden Körperteil des Gegners nicht unweigerlich zu Verletzungen führen muss.
Folglich muss alles daran gesetzt werden, einen Kontakt mit der Waffe zu vermeiden.
Die Abwehraktion wird sich daher selbstverständlich gegen die Waffenhand oder gegen den Waffenarm des Angreifers richten, und nicht gegen die Waffe an sich (Schusswaffen bilden hierbei eine Ausnahme, die jedoch nicht Thema diese Blogbeitrags sein soll).

Im Idealfall gelingt es dem Verteidiger, durch seine Abwehrtechnik die Waffe dem Angreifer aus der Hand zu schlagen. Doch wann läuft im Ernstfall etwas nach dem Idealschema?
Daher sollte oberstes Ziel der Abwehrhandlung sein, erstens nicht von der Waffe getroffen zu werden, und zweitens die Waffenhand des Gegners unter Kontrolle zu bringen.
Gelingt dies, ist schon viel erreicht. Denn dann muss man "nur" noch den Angreifer mittels harter Folgetechniken kampfunfähig machen. Abschließend ist es dringend ratsam, die Waffe zu sichern oder gegebenenfalls zur Selbstverteidigung gegen weitere Angreifer einzusetzen.

Nun ist man unbestreitbar doppelt im Nachteil, wenn man von einem bewaffneten Angreifer attackiert wird: Einerseits muss man den Schrecken, den ein überraschender Angriff hervorruft, verarbeiten, andererseits hat man der Waffe nur die leeren Hände entgegenzusetzen.
Aber wenn man nun die Möglichkeit hätte, eine Waffe oder einen Gegenstand zur eigenen Verteidigung heranzuziehen?
Nun, selbstverständlich wird kein friedlicher und gesetzestreuer Mensch eine Waffe mit sich führen, wenn er das Haus verlässt. Aber wenn während einer Notwehrsituation sich die Chance eröffnen sollte, eine Waffe oder einen Gegenstand ergreifen zu können, der die Effektivität der eigenen Abwehrmaßnahmen deutlich erhöhen könnte, so sollte man ohne Skrupel und ohne falschen Zweifel diese Chance auch wahrnehmen.
Wer sich oder andere gegen einen beispielsweise mit einem Messer bewaffneten Angreifer verteidigen muss, sollte natürlich jeden greifbaren Gegenstand in seiner Nähe in seine Verteidigungshandlung einbeziehen, um seine Eigensicherung und die Trefferwirkung beim Gegner zu erhöhen. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir darauf aufmerksam zu machen, dass der Kommentar zum Notwehrparagraphen ( § 32 ) des Strafgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich darauf hinweist, dass im Falle der Notwehr keine Waffengleichheit zwischen Verteidiger und Angreifer verlangt wird. (2)

Viele der Techniken im Everyday Life Combat / Reality Fighting können unverändert auf die Handhabung mit Waffen oder Alltagsgegenständen übertragen werden.
Die Abwehrtechniken können ebenso mit einer Waffe ausgeführt werden, und eine Vielzahl der Handtechniken folgt dem Prinzip von Waffentechniken.

Dennoch empfehle ich besonders den fortgeschrittenen Aktiven, im Rahmen von Speziallehrgängen zum Thema Waffenverteidigung ihre Kenntnisse auf diesem Sektor der Selbstverteidigung zu vertiefen.

In diesem Sinne verbleibe ich einmal mehr

Euer Sifu Kai   

Anmerkungen:

(1) vgl. Levine, Darren und Whitman, John: Krav Maga. München 2014. S. 234/235 und S. 292.


(2) vgl. Kraze, Kai: Everyday Life Combat Reality Fighting. Berlin 2005. S. 148 - 150.