Sonntag, 17. Februar 2013
Über "Weichheit" im Wing Chun
Liebe Mitlesende,
nachdem ich jüngst wieder einmal in eine Diskussion über die Bedeutung von Weichheit im Wing Chun verstrickt worden bin, möchte ich Euch an meinen Ideen und Überzeugungen zu diesem Thema teilhaben lassen. Ich bin mir bewusst, dass es unterschiedliche Ansichten darüber gibt, und sicher dürfen diese Ansichten für die Vertreter anderer Linien innerhalb der großen Wing Chun - Familie auch ihre volle Gültigkeit und Berechtigung beanspruchen. Auch denke ich keinesfalls, dass ich mit meiner Auslegung, die sich im Rahmen der von mir erlernten Wing Chun - Linie bewegt, der Weisheit letzten Schluss für mich beanspruchen dürfte. Ich möchte lediglich meine Gedanken dazu präsentieren.
Die Weichheit im Wing Chun ist untrennbar mit den taoistischen Prinzipien verbunden. Letztendlich bedeutet Weichheit nichts anderes, als die Schwäche zur Stärke zu machen. Vergessen wir nicht: Wing Chun wurde von einer Frau entwickelt! Das bedeutet jetzt natürlich nicht, dass alle Wing Chun - Ausübenden Schwächlinge sein müssen.
Viel mehr sollte man bestrebt sein, Freude an der Harmonie zu empfinden und nicht mehr unbedingt "mit dem Kopf durch die Wand" zu wollen. Somit bedeutet "weich" im Wing Chun für mich keinesfalls "schwach". "Weich" heißt für mich flexibel, anpassungsfähig und geschmeidig zu sein. Als Gegensatz könnte man die Starrheit anführen, die mit den Attributen unbeugsam, tot und brüchig einhergeht.
Selbstverständlich sollte man sich nicht scheuen, die Muskeln einzusetzen, denn wie sonst könnte man wohl eine explosive Technik hervorrufen? In einer weichen Kampfkunst entspannt man zunächst daher alle Muskeln und setzt dann allmählich nach Bedarf immer weitere ein.
Um die Weichheit zu entwickeln empfehle ich speziell die Siu Nim Tao - Form sowie Chi Sao - Training.
Nun gibt es Stimmen, die berechtigterweise behaupten, dass sich ein Kampf - zumal für Anfänger - nicht allein durch Weichheit gewinnen lässt. Jedoch ist die Weichheit mit eine der Voraussetzungen, wenn man einen Kampf nach den Wing Chun - Prinzipien bestreiten möchte. Und dennoch wird die Praxis, die Schüler von Beginn an auf Weichheit zu trimmen, von manchen Wing Chun - Vertretern kritisiert. Diese Leute behaupten nämlich, dass der Schüler dadurch im Grunde um den Entwicklungsschritt der enorm wichtigen Struktur beraubt wird , indem man ihn ständig an die Weichheit gemahnt, ohne darauf hinzuweisen das ein Angriff auch mal recht hart und kraftvoll sein kann. Da wird wie folgt argumentiert: "Der Starke ist in erster Linie erfolgreich, was seine Selbstverteidigung angeht und quält sich nicht jahrelang mit 'Weichwerden' ab. Weich kann es ja immer noch werden. Dieser Prozess vom 'Harten zum Weichen' ist enorm wichtig für die Entwicklung des Schülers und darf unter keinen Umständen vorenthalten werden. Wenn ich nicht weiß was 'hart' ist, wie soll ich für mich einschätzen lernen, was mit 'weich' gemeint sein soll."
Auch wird von der selben Seite dann gerne darauf hingewiesen, dass es selbst im WT Stilrichtungen gibt, welche in ihrer "Härte" dem Karate in nichts nachstehen. So hätten die meisten hohen Meister nämlich vom Harten zum Weichen diese Entwicklung selbst beschritten - wer es nicht glaubt, sehe sich alte Bilder in Büchern oder Zeitschriften der üblichen Verdächtigen einfach mal genauer an.
Zu diesen Behauptungen möchte ich nun wie folgt Stellung nehmen:
Da ja das WT hier aufgeführt wurde, so darf doch nicht vergessen werden, dass Keith R. Kernspecht, der des öfteren auch schon als "Vater des WT in Europa" bezeichnet worden ist, auf eine lange Zeit in der Krafttrainingsszene zurückblicken kann und selbst den Weg von "harten" Stilen zum "weichen" WT beschreiten musste. Nach seiner eigenen Aussage tat er sich dabei längere Zeit nicht gerade leicht.
Ich selbst bin über harte Stile zum weicheren Wing Chun gekommen und hatte anfänglich auch Startprobleme, die sich erst im Rahmen von Privatunterricht beheben ließen.
Die Erkenntnis, dass ein Mehr an Kraft letztendlich den Ausschlag in einem Kampf geben kann, hatte ja bereits Eberhard Schneider in seinem Buch "Krafttraining für Kung Fu und Karate" dargelegt.
Nicht umsonst wird das Wing Chun - Training ja auch durch spezifische Kraftübungen belebt, die Arbeit mit dem Langstab sei hier nur als ein Beispiel genannt.
Dennoch ist nichts falsch daran, die Schüler von der ersten Stunde an auf Weichheit zu trimmen. Und dieses Konzept besagt ja noch lange nicht, dass ein Angriff (der ja bekanntlich auch die beste Verteidigung ist) nicht trotzdem auch explosiv und daher kraftvoll vorgetragen werden kann. Es mag ja sein, dass der Starke (im Sinne von physischer Überlegenheit durch Körpergewicht und Muskelmasse) mit seiner auf Härte und brachialer Gewalt, wo meist Kraft gegen Kraft gesetzt wird, so dass der Kräftigere letztendlich Sieger bleiben wird, basierenden Selbstverteidigung erfolgreich ist. Nur hat das dann mit den Wing Chun - Prinzipien nur noch herzlich wenig zu tun. Und ich denke eben nicht, dass dieser Typus Kämpfer noch eines Tages wirkliche Weichheit erlangen wird.
Wie der weiter oben bereits genannte "Vater des WT in Europa" einmal recht treffend anmerkte: "Wer in der Jugend hart beginnt, wird im Alter nicht weich, sondern höchstens schwach und brüchig".
Mir ist auch keine Wing Chun - Stilrichtung bekannt, die in ihrer Härte dem Karate ähneln würde. Und wie wir sicher alle wissen, gibt es auch im Karate innerhalb der einzelnen Stilrichtungen noch Unterschiede und Abstufungen in punkto Härte bzw. relative "Weichheit".
Ich denke daher, wenn man schon die Chance hat, einem Schüler, der nicht zuvor durch härtere Stile für die Weichheit "verdorben" worden ist, gleich von Beginn an die Weichheit zu vermitteln, dann wäre es ein Fehler, diese Chance nicht zu nutzen. Denn als Sifu darf man in erster Linie nur eines im Auge haben: das Wohl und den Fortschritt seiner Schüler.
Letztendlich muss man in diesem Zusammenhang das Wissen um das Zusammenwirken der Kräfte Yau und Gong hinzuziehen. "Yau" entspricht dabei der Federkraft - sie ist passiv, weich, elastisch, federnd und flexibel.
"Gong" hingegen ist die primitive, brutale Kraft, die bei obigem Beispiel dann durch die brachiale Selbstverteidigung des "Starken" symbolisiert werden würde. Die im Wing Chun angewandte Kraft ist Yau.
Das bedeutet nicht, wie manche Kampfsysteme irrtümlich glauben, dass es sich um eine schwache Kraft handeln muss. Denken wir doch z. B. einmal an die Feder in einem Auto. Auch innerhalb der Yau-Kraft kann man differenzieren zwischen einer großen und einer kleinen Kraft, ebenso wie es große und kleine Federn gibt. Es gibt starke und schwache Yau-Kräfte; wie es starke und schwache Federn gibt.
Daher ist der Unterschied zwischen Yau und Gong nicht quantitativ, sondern qualitativ zu bewerten.
Ich habe als Illustration zu dem heutigen Beitrag frische grüne Weidenruten gewählt.
Ganz bewusst habe ich mich gegen die Darstellung von Bambus oder Rattan, die sonst so gerne in ähnlichem Zusammenhang in der Kampfkunstwelt aufgeführt werden, entschieden. Denn die Weidenrute ist einerseits extrem "weich" und biegsam, kann aber auch aufgrund ihrer Elastizität in einer federnden Schnellbewegung eine erstaunliche Kraft entfalten. Jeder, der schon einmal einen Hieb mit einer solchen Rute erhalten hat, wird nachvollziehen können, was ich hiermit verdeutlichen will.
Außerdem gilt die Weide in China als Symbol für den Frühling, und Wing Chun bedeutet nun einmal so viel wie "immerwährender Frühling"...
In der Hoffnung, dass der Frühling auch meteorologisch bald hierzulande Einzug halten möge, verbleibe ich wieder
Euer Sifu Kai
Sonntag, 10. Februar 2013
Das Jahr der Schlange hat begonnen...
Liebe Leserinnen und Leser,
das chinesische Jahr der Schlange hat begonnen. Die Chinesen sagen den Menschen, die im Jahr der Schlange geboren wurden, einige interessante Eigenschaften nach: gutes Aussehen, Charme, Intelligenz, Entschlussfreudigkeit und eine scharfe Beobachtungsgabe. Wenn die Charaktere eher zu der dunklen Seite tendieren, dann können sich zu den vorher genannten positiven Eigenschaften auch noch Aggressivität und Tyrannei hinzugesellen.
Ein lateinisches Sprichwort belegt die Schlange mit folgenden mahnenden Worten: Nemo me impune lacessit.
Das ließe sich in etwa wie folgt übertragen: Niemand tritt mir zu nahe (beleidigt mich), ohne verletzt zu werden. Diese Erkenntnis kann man auch trefflich auf die anzustrebende charakterliche Eigenart eines Wing Chun - Kämpfers anwenden, die sich in den Worten zusammenfassen lässt: Ich kümmere mich um meine eigenen Angelegenheiten, aber wenn du Ärger suchst, dann werde ich dir eine Welt voller Schmerzen verschaffen.
Ich wünsche allen Mitlesenden ein frohes chinesisches Neujahr und möchte alle ermuntern, in diesem Jahr die besondere innere Einstellung der Schlange zu beherzigen und mitunter auch nach außen zu tragen.
Euer Sifu Kai
Freitag, 1. Februar 2013
Die gute Idee für den Monat Februar
Liebe Mitlesenden,
"das mache ich doch mit links" - so besagt eine Redewendung.
Daran anknüpfend, möchte ich für diesen Monat den Vorschlag unterbreiten, mehr Tätigkeiten mit der "schwacheren" Hand auszuüben. Da der phänotypische Anteil der Linkshänder in der Bevölkerung mit 10 bis 15 Prozent angegeben wird, gehe ich in meinen Ausführungen jetzt von der rechten Hand als der stärkeren aus. Für alle Linkshänder gilt daher, dass sie einfach nur die Überlegungen für ihre Voraussetzungen umzustellen brauchen.
Speziell in der Kampfkunst ist es notwendig und von unschätzbarem Vorteil, wenn man in der Lage ist, mit beiden Händen weitestgehend gleichwertig zu agieren. Diese Fertigkeit wird ja bereits im Formenlauf von Beginn an geschult und entwickelt. Wer sich mit dem weiten Feld des Waffentrainings beschäftigt (ob nun im mittelalterlichen europäischen Waffenkampf, in den FMA oder in anderen Kampfkünsten wie etwa im Kobudo oder im Mu Ki Do, um nur einige davon zu nennen), wird anfänglich noch die Schwierigkeiten spüren, die sich auf dem Wege zu einem Generalisten der Beidhändigkeit vor einem auftürmen. Die weniger gut ausgeprägte Koordination und Griff- wie Schlaghärte der "schwächeren" Hand wird sich in der ersten Phase des Lernens nicht verbergen lassen. Doch mit der Zeit wird man auch mit der ansonsten eher vernachlässigten Hand geschickter und sicherer, bis endlich der Unterschied zwischen den beiden Händen auf ein Minimum reduziert sein wird. Natürlich bleibt das Idealziel einer völligen Gleichwertigkeit beider Extremitäten immer anzustreben.
Im Wing Chun entwickelt die Bart Cham Dao - Form, die den weit fortgeschrittenen Ausübenden, der zu diesem Zeitpunkt meist bereits selbst eine Lehrtätigkeit aufgenommen haben wird, an die Handhabung der Doppelmesser (auch manchmal als "Schmetterlingsmesser" bezeichnet, wobei man in diesem Falle keiner Verwechslung mit dem philippinischen Balisong, das in der Umgangssprache als "Butterflymesser" bekannt geworden und durch Jugendgruppengewalt leider in Verruf geraten ist, unterliegen darf) heranführt und quasi die "höchste Weihe" in diesem Kampfkunstsystem darstellt, bestens die Verwendung beider Hände für diverse Aktionen, die in Kombination mit Schrittmustern und Körperwendungen dem aktiven Wing Chunler noch einmal einen besonderen Feinschliff verpasst und zu völlig neuen Erkenntnissen in dieser Kampfkunst führen kann.
Ich möchte meine Leser nun heute dazu ermuntern, auch im Alltag und daher außerhalb ihres eigentlichen Kampfkunsttrainings die "schwächere" Hand zu schulen, indem ganz bewusst mehr Tätigkeiten mit eben dieser Hand ausgeführt werden sollen. Zu diesem Zwecke werden sich für jeden ganz individuelle und nahezu unbegrenzte Möglichkeiten finden lassen, die nicht nur zu einer veränderten Wahrnehmung und Weltsicht, sondern auch zu einer größeren Flexibilität und Vielseitigkeit führen können. Von einer besseren Verknüpfung der linken mit der rechten Gehirnhälfte und anderen neuro-wissenschaftlichen Erwägungen möchte ich an dieser Stelle schweigen.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern viel Spaß bei der Erprobung der Fähigkeiten der "schwächeren" Hand und verbleibe wieder bis zum nächsten Beitrag
Euer Sifu Kai
"das mache ich doch mit links" - so besagt eine Redewendung.
Daran anknüpfend, möchte ich für diesen Monat den Vorschlag unterbreiten, mehr Tätigkeiten mit der "schwacheren" Hand auszuüben. Da der phänotypische Anteil der Linkshänder in der Bevölkerung mit 10 bis 15 Prozent angegeben wird, gehe ich in meinen Ausführungen jetzt von der rechten Hand als der stärkeren aus. Für alle Linkshänder gilt daher, dass sie einfach nur die Überlegungen für ihre Voraussetzungen umzustellen brauchen.
Speziell in der Kampfkunst ist es notwendig und von unschätzbarem Vorteil, wenn man in der Lage ist, mit beiden Händen weitestgehend gleichwertig zu agieren. Diese Fertigkeit wird ja bereits im Formenlauf von Beginn an geschult und entwickelt. Wer sich mit dem weiten Feld des Waffentrainings beschäftigt (ob nun im mittelalterlichen europäischen Waffenkampf, in den FMA oder in anderen Kampfkünsten wie etwa im Kobudo oder im Mu Ki Do, um nur einige davon zu nennen), wird anfänglich noch die Schwierigkeiten spüren, die sich auf dem Wege zu einem Generalisten der Beidhändigkeit vor einem auftürmen. Die weniger gut ausgeprägte Koordination und Griff- wie Schlaghärte der "schwächeren" Hand wird sich in der ersten Phase des Lernens nicht verbergen lassen. Doch mit der Zeit wird man auch mit der ansonsten eher vernachlässigten Hand geschickter und sicherer, bis endlich der Unterschied zwischen den beiden Händen auf ein Minimum reduziert sein wird. Natürlich bleibt das Idealziel einer völligen Gleichwertigkeit beider Extremitäten immer anzustreben.
Im Wing Chun entwickelt die Bart Cham Dao - Form, die den weit fortgeschrittenen Ausübenden, der zu diesem Zeitpunkt meist bereits selbst eine Lehrtätigkeit aufgenommen haben wird, an die Handhabung der Doppelmesser (auch manchmal als "Schmetterlingsmesser" bezeichnet, wobei man in diesem Falle keiner Verwechslung mit dem philippinischen Balisong, das in der Umgangssprache als "Butterflymesser" bekannt geworden und durch Jugendgruppengewalt leider in Verruf geraten ist, unterliegen darf) heranführt und quasi die "höchste Weihe" in diesem Kampfkunstsystem darstellt, bestens die Verwendung beider Hände für diverse Aktionen, die in Kombination mit Schrittmustern und Körperwendungen dem aktiven Wing Chunler noch einmal einen besonderen Feinschliff verpasst und zu völlig neuen Erkenntnissen in dieser Kampfkunst führen kann.
Ich möchte meine Leser nun heute dazu ermuntern, auch im Alltag und daher außerhalb ihres eigentlichen Kampfkunsttrainings die "schwächere" Hand zu schulen, indem ganz bewusst mehr Tätigkeiten mit eben dieser Hand ausgeführt werden sollen. Zu diesem Zwecke werden sich für jeden ganz individuelle und nahezu unbegrenzte Möglichkeiten finden lassen, die nicht nur zu einer veränderten Wahrnehmung und Weltsicht, sondern auch zu einer größeren Flexibilität und Vielseitigkeit führen können. Von einer besseren Verknüpfung der linken mit der rechten Gehirnhälfte und anderen neuro-wissenschaftlichen Erwägungen möchte ich an dieser Stelle schweigen.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern viel Spaß bei der Erprobung der Fähigkeiten der "schwächeren" Hand und verbleibe wieder bis zum nächsten Beitrag
Euer Sifu Kai
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