Viele Kampfkunststile / -systeme weisen als einen wichtigen Baustein des großen Ganzen den Formenlauf auf. Das trifft auf Kung Fu (Kuen) ebenso zu wie auf Karate (Kata) oder Taekwondo (Poomse, Hyong).
Jeder Kampfkunstausübende, der sein eigenes Vorankommen in der Kunst ernstnimmt, sollte den Formenlauf nicht vernachlässigen und möglichst täglich eine der erlernten Formen laufen.
Diese Forderung klingt nicht gerade nach viel und schon gar nicht nach einer Über-Forderung. Dennoch kennt sicher jeder Mensch den stetig lauernden "inneren Schweinehund", der einem nur zu gerne triftige Gründe liefert, das Training zu vernachlässigen und den täglichen Formenlauf einmal ausfallen zu lassen.
Nun mag man argumentieren: Einmal ist keinmal! Aber nur zu schnell schleicht sich eine Routine der Bequemlichkeit ein, bis dass der Formenlauf dann nur noch alle paar Tage praktiziert wird.
Dieser Gefahr gilt es vorzubeugen.
Folgende Denkanstöße sollen helfen, den Formenlauf als tägliche Dosis Wohlbefinden kennenzulernen und quasi eine "Sucht" nach dem täglichen Beschäftigen mit der Kampfkunst zu entwickeln:
1. Setze dich nie unter einen Leistungsdruck!
Begreife den Formenlauf als eine ideale Möglichkeit, völlig in Harmonie und Einklang von Körper und Seele deines Selbst zu kommen. Genieße die Minuten, die du mit der Beschäftigung mit deiner Leidenschaft zubringst. Schalte alle Gedanken aus, die sich nicht mit der Wahrnehmung deines Körpers und mit der Kampfkunst befassen. So erreichst du einen Zustand der Meditation in Bewegung.
2. Vergleiche dich nicht mit anderen!
Der Formenlauf ist eine sehr individuelle Angelegenheit. Jeder akzentuiert innerhalb der vorgeschriebenen Bewegungsabläufe die Techniken ein wenig anders. Sei ganz du selbst. Entfalte deine Persönlichkeit.
3. Vergleiche dich nicht mit dir selbst!
Was zuerst wie ein Paradoxon klingt, fußt dennoch auf einem tieferen Sinn und Erfahrungswert.
Denn in der Tat ist es so, dass man beim Formenlauf - wie bei praktisch allen Dingen des Lebens - eine Tagesform aufweist. Speziell fortgeschrittenere Kampfkünstler, die sich schon weiter von den bloßen Formalitäten des Formenlaufes entfernt und eine gelöste Routine entwickelt haben, so dass der Geist sich frei entfalten und zu höheren Sphären hinaufschwingen kann, werden mir beipflichten, wenn ich nun konstatiere, dass man ein und dieselbe Form an aufeinanderfolgenden Tagen meist nie auf die gleiche Art und Weise ausübt. Akzente werden anders gesetzt, der Rhythmus wird verändert, der Krafteinsatz wird häufig variieren. Das hängt ganz einfach von den Stimmungslagen ab, denen auch wir Kampfkünstler unterworfen sind und denen wir uns ebensowenig wie andere Menschen entziehen können.
Mal fühlen wir uns sehr impulsiv und vor Energie strotzend, schon wird auch der Formenlauf sehr kraftbetont und mit raschen Tempiwechseln ausgeübt werden.
Ein andermal verspüren wir eher eine große innere Gelassenheit und Ruhe, und dementsprechend wird auch die jeweilige Form dann wohl eher gemächlicher und mehr meditativer vom Charakter her angegangen werden.
Alles das lässt aber keine Aussage über die Qualität des Formenlaufes zu. Man kann nicht sagen, der kraftbetontere Formenlauf wäre der entspannteren und meditativeren Variante vorzuziehen.
Es hängt ganz vom Individuum und dessen Befinden zum Zeitpunkt des Formenlaufes ab.
Das ist der einzige Maßstab. Wenn sich das Befinden in der Form widerspiegelt, wenn Geist und Körper auf harmonischem Wege zu einer Einheit verschmelzen - dann ist der wahre Sinn des Formenlaufes erfüllt und die Kampfkunst erwacht aus der ansonsten bloßen Erstarrung in Doktrinen und Maximen zu einem dem Menschen und dessen Gesundheit dienenden Leben.
Was folgt also als Fazit?
Die Kampfkunst und deren wichtiger Eckpfeiler, der Formenlauf, müssen immer vom Standpunkt der sich stetig entwickelnden und verändernden Gegebenheiten des Lebens betrachtet werden.
Wer nur auf die äußere Form schielt und sich in Familientraditionen und Überlieferungen verliert, wird niemals zum wahren Kern der Kampfkunst vorstoßen können. Ohne Zweifel stellt gerade in den chinesischen Kampfkünsten die Abstammungslinie und die Vererbbarkeit innerhalb der Stilrichtungen und Familien eine sehr große Bedeutung dar. Und keinesfalls sollte man mit diesen Traditionen brechen oder sich über sie lustig machen. Doch man darf auch nicht vergessen, dass sich die Realitäten des Kampfes immer weiterentwickeln und verändern. Was vor zweihundert Jahren galt, muss heute nicht mehr unbedingt sinnvoll erscheinen.
Daher wird immer eine behutsame Anpassung an die aktuellen Realitäten notwendig sein, ebenso wie eine tägliche Anpassung an das eigene Befinden beim Formenlauf unabdingbar ist.
Dadurch wird die Kampfkunst an sich, werden die altüberlieferten Stile und Systeme jedoch keinesfalls "verwässert" oder verfälscht. Vielmehr bietet eine solche Herangehensweise an die Kampfkunst die einzige Möglichkeit, das Überleben der Kampfkunst zu sichern und selbst jahrhundertealten Traditionen eine blühende Zukunft zu eröffnen. Denn letztendlich ist das doch das einzige, was zählt, sei es nun in Hinblick auf den Formenlauf und die Kampfkunst oder auf all die kleinen und großen Dinge des Alltags: das Anreichern mit Leben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen